JonasklageAn die Dunkelheit und die Enge hatte er sich nie gewöhnen können. Wenn er sich all das Wasser um seine Kajüte herum vorstellte - über die nötige Phantasie verfügte er allemal - konnte ihm immer noch komisch werden. Ihm wurde auf der Festung leicht komisch, und das sei anderthalb Jahren schon. Er hatte eine seltsame Erfahrung machen dürfen: dass man seekrank werden konnte auf einem Schiff, das nicht schaukelte. So jedenfalls erklärte er sich diese regelmäßig wiederkehrende Stimmung: als Seekrankheit. Er sprach nicht darüber. Er war von sich nicht sehr gesprächig und außerdem hatte er sehr schnell herausgefunden, dass Vertrauensseligkeit auf der Festung nicht gern gesehen war. Ganz im Gegenteil. Die Festung kultivierte die Paranoia: Überwacht wurde auf der Festung alles, geschätzt wurde so gut wie nichts. Sicherheitsgründe. Manchmal dachte er, dass der Teufel seine Maßnahmen vor allem mit Sicherheitsgründen rechtfertigte. Und in dunklen und engen Nächten wie diesen nahm seine eigene Paranoia überhand. Die Festung kam Ihm dann wie ein Gemisch aus U-Boot und Gefängnis vor, und im Grunde war sie beides. Wenn er in Nächten wie diesen wachlag, dann machte der Bau Geräusche, die ihm gleichzeitig unter seinen Magen griffen und die Kehle zudrückten. Unbestimmte, fast subakustische Geräusche waren das, die er nie hätte beschreiben können, und von denen er nicht wusste, woher sie kamen. Seine Angstbereitschaft ordnete sie aber jederzeit potentiell tödlichen Entwicklungen zu: unbemerkten Lecks unter der Wasserlinie, einem unvermuteten, spontanten Nachgeben des Stahls und Betons über seinem Kopf, dem plötzlichen Reißen der armdicken Stahlkabel, die die ganze Struktur am Boden der Nordsee festhielten. Nichts davon war wahrscheinlich. Alles erschien ihm zwingend - in Nächten wie diesen. Das konnte doch nicht gut gehen!, zischte die Paranoia ihm zu, hab ich es dir nicht gesagt! Und sie zischte ihm damit jede Hoffnung auf Schlaf aus dem Leib. Nach anderthalb Jahren auf der Festung wußte er: Eine Nacht wie diese verhieß für den nächsten Tag viel Coffein, Muskelflimmern und Kopfweh. Gewissermaßen die zweite Stufe seiner speziellen Form der Seekrankheit. Dunkle und enge Nächte wie diese, in denen er sich fühlte wie Jonas im Bauch des Walfischs. Dass sich der Vergleich mit der biblischen Figur immer noch so bereitwillig meldete, ärgerte ihn. Er war ausgesprochen antireligiös eingestellt. Aber auch das half ihm in Nächten wie diesen wenig.
KopfwehZuerst fiel Kramer auf, dass kaum Blut zu sehen war. Er hatte eine Riesensauerei erwartet, aber bis auf ein paar kleine Tropfen und Schlieren auf dem abgewetzten Linoleumboden war da nichts. Er stand im Hinterzimmer des Jugendclubs, die Mütze in der Hand, und suchte nach Blut, nach dem Offensichtlichen, nach den Spuren des Ereignisses, aber die Ausbeute war mager. In seiner Zeit als Polizist hatte er schon einige Tatorte gesehen und über die Jahre eine bestimmte Haltung dazu entwickelt: Je schlimmer es aussah, desto leichter würde seine Arbeit sein. Jemand, der bei der Ermordung eines Menschen eine Riesensauerei anrichtete, war leichter zu erwischen, denn er hatte sich nicht unter Kontrolle. Mit Leuten, die sich beherrschen konnten, war es schon schwieriger. Dieser Tatort hier gefiel Kramer auf den ersten Blick schon überhaupt nicht. Viel zu sauber.
Jemand hatte die Leiche mit einem geblümten Wachtischtuch bedeckt. Einige Leute standen um sie herum, als seien sie dazu verpflichtet. Im Gegenlicht des einzigen Fensters erkannte er Pasulke, einen Vopo, der nach ABV aussah, und einen SMH-Arzt. Am geöffneten Fenster selbst lungerten zwei Typen in weiß herum, die ebenfalls nach SMH aussahen. Auf dem Boden stand eine Tragbahre. Kramer hatte den Barkas vor der Tür stehen sehen. Sie rauchten. Niemand brauchte sie nach, aber sie trauten sich nicht, einfach wegzugehen, genauso wenig wie der Arzt, ihr Vorgesetzter.
Er wollte gerade auf die Gruppe zu treten, da zwitscherte plötzlich eine der Computerspielkonsolen wie ein Vogel. Oder war es ein Flipperautomat? Kramer drehte sich um. Eine der Konsolen. Er konnte einige bunte Männchen erkennen, die über den Bildschirm hüpften und rannten. Am Münzeinwurf die typischen Kratzspuren der Spieler, denen der Automat die Münzen wieder in die Hand gespuckt hatte. Über dem Gerät hing ein Plakat: Ein gutgelaunter Jugendlicher im FDJ-Hemd präsentierte dem Betrachter einen bunten Blumenstrauß. Darunter die Parole: "FDJ-Initiative Berlin 2000". Daneben stand ziemlich groß in die Wand geritzt: "Solanaceae Tau". Hörte sich an wie der Name einer der südamerikanischen Bands, die jetzt so populär waren. Als Kramer auf die Gruppe um die Leiche herum zuging, dachte er: Typisch. Das einzige, was man hier in diesem Laden von der FDJ-Initiative mitkriegt, ist ein Plakat. Arbeiterviertel eben.
"Kippen weg", sagte er beiläufig zu den Rauchern von der Schnellen Medizinischen Nothilfe. Sie warfen sie widerwillig aus dem Fenster.
"Wagner, ABV hier", sagte der Vopo. "Die Leiche ist vor einer Stunde entdeckt worden, vom Hausmeister."
Hinter ihm lehnte ein gelbes Männlein in einer grau-blauen Hausmeisterjacke an der Wand. Es versuchte krampfhaft, an dem Wachstischtuch vorbeizublicken.
"Danke, Herr Wagner", sagte Kramer. "Sie können jetzt gehen." Wagner salutierte und lief zur Tür. Mit der Klinke in der Hand sagte er noch: "Wenn Sie mich brauchen ..."
"Selbstverständlich. Wir rufen Sie an", antwortete Kramer dem fleißigen Abschnittsbevollmächtigten. Er sah den Arzt an: der schwieg. Pasulke war ebenfalls still. Kramer spürte: Alle wußten, was jetzt kommen würde. Er kniete sich hin und hob die Wachsdecke an. Das war allerdings schlimm. Das war sogar ziemlich schlimm. Oberhalb des Halsansatzes war alles zermatscht. Der Kopf des Opfers war zu einer Fleisch-, Blut- und Knochenpampe zerdrückt worden. Es sah aus, als habe man das Opfer rücklings auf die Straße gelegt und wäre mit einem Laster über den Kopf gefahren. Selbst hier erstaunlich wenig Blut. Allerdings klebten einige Batzen der Fleischpampe an der Unterseite des Wachstuchs, das Kramer in der Hand hielt. Es gab ein Übelkeit erregendes, feucht schmatzendes Geräusch, als er die Decke fallen ließ, etwa so, als lasse man aus geringer Höhe einen feuchten Putzlappen zu Boden gleiten. Kramer stand auf. Gegen seinen Willen wischte er seine rechte Hand an seiner Jacke ab. Pasulke war grün im Gesicht, der Arzt blickte verlegen zur Seite.
"Sie können jetzt auch gehen", sagte Kramer.
Der Arzt nickte, winkte den SMH-Helfern, und die drei verschwanden. Die leere Tragbahre nahmen sie mit. Kramer ging zu dem Hausmeister. Der Hausmeister war offensichtlich völlig mit den Nerven runter, wahrscheinlich stand er sogar unter Schock. Kramer wußte nicht, was er tun konnte, um ihn zu beruhigen. Er wußte auch nicht, ob es Sinn hatte, ihn jetzt auszufragen. Aber das war nun einmal seine Pflicht.
"Furchtbar", sagte er leise.
"Ja furchtbar ", murmelte der Hausmeister vor sich hin. "Der Michael hab ihn gefunden "
"Sie wissen, wer das ist?"
"Kann nur der Michael sein hab ihn schon paarmal hier erwischt hat sich manchmal über Nacht einschließen lassen ganz verrückt nach dem Spiel "
"Michael? Wissen Sie den Nachnamen?"
"Michael Michael Abusch. Hab ihm mal die Ohren langgezogen und vom ABV nach Hause bringen lassen."
"Haben Sie sonst noch jemand gesehen? Können Sie uns irgendwas sagen, was uns weiterhilft?"
Der Hausmeister riss ruckartig seinen Kopf herum. Sein Gesicht war gelbgrün, in seinen Augen stand die nackte Angst.
"Herr, Herr Kommissar! Wenn Sie glauben, dass ich was damit zu tun habe das stimmt nicht! Ich bin hier der Hausmeister!" Jetzt schrie er fast. "Der Michael hat mich genervt, aber ich bring doch keenen um, nur weil er mich nervt! Ick hab hier heut morjen uffjemacht, und da isser da jelegen! Det müssn Se mir gloobn! Ick bin keen Mörder!"
Kramer fühlte sich peinlich berührt. Er sah schnell zu Pasulke hinüber, und Pasulke verdrehte die Augen, als wolle er sagen: Was machst du denn da! Der Hausmeister sagte ein paarmal sehr laut, dass er kein Mörder sei.
"He", warf Kramer ein, "he, he, he. Das ist in Ordnung. Das glaube ich Ihnen. Ist in Ordnung. Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus. Alles in Ordnung."
Na wunderbar. Zu seinen Füßen lag ein Junge mit einem zermatschten Kopf, und er tröstete den Mann, der dieses Bild als Erster hatte ertragen müssen, mit der Behauptung, alles sei in Ordnung. Der Hausmeister sah ihn noch ein paar Sekunden lang wild an, als wisse er nicht genau, wer von ihnen beiden irre war. Dann hob er seine Hände vors Gesicht und barch in Tränen aus. Es war ein dünnes und kraftloses Weinen, in Kramers Ohren klang es ungeübt, um nicht zu sagen impotent, und er hasste sich dafür, dass sein Kriminalistenohr nach einem falschen Ton suchte, der ihm die Anstrengung des Schauspielers verraten hätte. Aber da war kein falscher Ton. Da war nur Erbärmlichkeit, Verwirrung und Schock. Kramer konnte es nicht ertragen. Er fasste den Hausmeister um die Schultern und schob ihn zur Tür. Der Mann ließ sich willenlos führen.
"Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?", fragte Kramer.
"Wohn - wohn um die - Ecke", brachte der Hausmeister mühsam hervor.
"Gehen Sie", sagte Kramer. "Gehen Sie nach Hause."
Der Hausmeister gehorchte. Man konnte ihn noch eine Weile schniefen hören. Pasulke und Kramer blieben allein zurück. Sie standen neben dem Toten wie bestellt und nicht abgeholt.
"Meisterleistung", sagte Pasulke. "Eins A Verhör."
"Hör schon auf." Mehr fiel Kramer nicht ein.
Im Grunde hatte Pasulke ja Recht.
Die Spurensicherung kam und tanzte ihr Spurensicherungsballett. Kramer wollte gerade mit Pasulke verschwinden, als Akkermann auftauchte. Akkermann vom K5. Eigentlich war das K5 seinerzeit gegründet worden, um Fälle wie diesen hier aufzuklären, Fälle schwerer Gewaltkriminalität, wie es sie in der DDR gar nicht geben sollte. Mit der Zeit war das K5 aber immer politischer geworden und hatte sich schließlich in den verlängerten Arm der Stasi bei der Kriminalpolizei verwandelt. In Erinnerung an ihre ursprüngliche Aufgabe versuchten die Beamten des K5, sich immer bei Fällen schwerer Gewaltkriminalität einzumischen, und schnüffelten nach Begleitumständen von "gesellschaftlicher Relevanz" oder nach einem "politischen Hintergrund", die es ihnen erlaubten, den Fall an sich zu ziehen; Kramer hatte schon öfter erleben müssen, wie ihnen das auch gelungen war. Seit sich das politische Klima verändert hatte, mussten sie um das Existenzrecht ihres Vereins bangen, und das machte sie oft noch ungenießbarer.
Das alles war an sich schon unangenehm, aber Kramer hasste Akkermann auch aus persönlichen Gründen. Sie waren im Laufe der Jahre einige Male aneinander geraten, und Kramer hatte Akkermann als durchtriebenen, intriganten und intelligenten Gegner fürchten gelernt. Wenn er mit sich selbst ehrlich war, dann hing seine Abneigung auch damit zusammen, dass Akkermann ein sehr gutaussehender Mann war und Männlichkeit abstrahlte wie ein Ölradiator warme Luft. Kramer zog es meistens vor, in dieser Frage nicht ehrlich mit sich selbst zu sein, andernfalls konnte es geschehen, dass ihm die Erinnerung hochkam, wie Akkermann einmal sogar mit Anette geflirtet hatte, während einer Feier zum 1. Juli auf dem Polizeipräsidium. Anette war offensichtlich nicht völlig abgeneigt gewesen.
Kramer hatte geglaubt, mit dem weinenden Hausmeister den absoluten Tiefpunkt des Tages überwunden zu haben, aber das Auftauchen Akkermanns setzte in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Akkermann trug Uniform, wie üblich. Wie Kramer war er Oberleutnant, sah aber aus wie ein NVA-Generalmajor auf Empfang beim Staatsratsvorsitzenden. Wie üblich. Er trat forsch an die Leiche heran (die Leute von der Spurensicherung machten ihm wie selbstverständlich Platz), betrachtete sie kurz und sagte dann: "Ach du Scheiße". Dann drehte er sich zu Kramer um und grinste ihn an, als habe er einen besonders intelligenten Witz gemacht. Nein, dachte Kramer, ich muss mich nicht daran erinnern, wie er Anette angemacht hat, um ihn zu hassen. Er ist einfach ein Arschloch.
"Wollen Sie denn hier?", fragte er so unfreundlich wie möglich. Akkermanns Grinsen fiel in sich zusammen.
"Ermitteln, was denn sonst", antwortete er im selben Tonfall.
"Na, dann ermitteln sie mal schön", gab Kramer zurück und nickte Pasulke zu. Sie gingen.
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