Vorbemerkung

Der Bremer Autor Christoph Spehr hat einen Text des Studienrats Gottlieb Günzburg zu meinem Buch Polyplay aus der Zukunft übersetzt. Diese Übersetzung macht mich aus verschiedenen Gründen glücklich. Sie infiltriert meinen Roman geradezu, und zwar aus völlig unerwarteter Perspektive. Intertextualität at its best. Und sie schafft mit einem Schlag einen ganzen neuen Zweig der Germanistik, nämlich die Antizipative Germanistik (oder Futurogermanistik). Aber lesen Sie selbst.



Marcus Hammerschmitt für die Obersekunda


Kann man, soll man Hammerschmitt lesen in der Schule? Diese Frage, die unter Pädagogischen Ressource Personen gerne am eifrigsten diskutiert wird, kann hier getrost übersprungen werden. Seit im heutigen Integrierten Bildungssystem 75% des Curriculums von den LernarbeiterInnen entschieden werden und auch das pädagogische Vetorecht bei der Schullektüre mit der Untersekunda endet, kommt keine PRP mehr um Hammerschmitt herum – und sagen wir es gleich deutlich: um >Polyplay<. >Hammerschmitts Werther<, wie er halb respektvoll, halb abwertend genannt wird, erfreut sich bei der Jugend heute einer Beliebtheit, in der nicht wenige einen ernsthaften Anlass zur Besorgnis sehen. Gerade deshalb darf jedoch die fachwissenschaftliche Betrachtung diesem Werk nicht ausweichen, wollen wir seine Deutung nicht dem ungeleiteten jugendlichen Existenzialismus und dem spekulativen Wahn der Websites überlassen.

>Polyplay<, soviel kann als gesichert gelten, markiert den Übergang von Hammerschmitts Frühschriften zu den Werken der sozialistischen Klassik. Es wird international als eines der Hauptwerke des Nine-Eleven gehandelt - eine Bezeichnung, die sich nun einmal für diese literarische Phase durchgesetzt hat, obwohl sie ähnlich nichtssagend und irreführend ist wie der Name >Sturm und Drang<, mit dem lange Zeit die Epoche des bürgerlichen Frühexistenzialismus in Deutschland bezeichnet wurde. Typisch für die Epoche des 9-11 (mitunter finden wir auch noch die Bezeichnung >Seattle<) ist das Thema der Scheinrealität, das damals auch im Kino ein dominierendes Motiv darstellte (von Fassinders >Welt am Draht< bis zum ersten >Matrix<-Film). In der Idee, die gesellschaftliche Realität sei in Wahrheit nur eine geschickte Inszenierung, eine >Simulation< (für eine Unterrichtseinheit bietet sich hier auch eine Textauswahl des damaligen Modephilosophen Jean Baudrillard an, siehe www.prp-help.eu), spiegelt sich natürlich der zugespitzte Widerspruch zwischen Produktionsweise und Produktivkraftentwicklung im hypertrophen Spätkapitalismus des frühen 21.Jahrhunderts. Das Motiv ist jedoch auch Ausdruck eines pubertär-anarchistischen Protests gegen jedwede Art von zentraler Kontrolle und rationaler Planung; ein Aspekt, der bei der Hammerschmitt-Lektüre in der Obersekunda nur allzu begierig von unseren LernarbeiterInnen aufgegriffen wird. Ebenfalls typisch für den 9-11 ist das Gemenge aus Moralismus und abgrundtiefem Geschichtspessimismus, resultierend aus den Widersprüchen zwischen unübersehbarer kapitalistischer Dysfunktion und fehlenden gesellschaftlichen Alternativen bzw. zwischen imperialem Zerfall und bürgerlichem Individualismus. Die um die Bildung ihrer LAs bemühte PRP wird die Gelegenheit nicht versäumen, anstelle der abgedroschenen Werther-Vergleiche hier Parallelen zum >Danton< Georg Büchners aufzumachen (>Sind wir denn Schweine, die man mit Ruten peitscht, damit ihr Fleisch den Göttern besser schmecken möge?<, auch hierzu eine nützliche Zitatensammlung auf www.prp-help.eu).

Sehr viel größere Schwierigkeiten bereitet in der Regel die korrekte Einordnung der politischen Rahmengeschichte. >Polyplay< spielt zunächst in einer Alternativhistorie, in welcher der staatssozialistische deutsche Teilstaat des 20.Jahrhunderts, die Deutsche Demokratische Republik (>DDR<), sich aufgrund eines technologischen Durchbruchs gegen den kapitalistischen Teilstaat (die >BRD<) durchsetzen konnte. Diese fiktive Sieger-DDR, in der eine gewisse gesellschaftliche Liberalisierung eingesetzt hat, die aber dennoch als autoritär-hierarchisches System gezeichnet ist, lädt geradezu dazu ein, als böse Satire auf unsere heutige Pluralökonomische Grundordnung gelesen zu werden. Dies ist selbstverständlich Unsinn. Hammerschmitt ging es im damaligen zeithistorischen Kontext um eine Annäherung an den gerade untergegangenen >real existierenden Sozialismus< im Sinne einer Entdämonisierung, durch welche die Hoffnungs- und Utopielosigkeit dieses historischen Versuches erst recht fühlbar wird, und die gleichzeitig die ganz ähnlich gelagerte Hoffnungs- und Utopielosigkeit des damaligen Spätkapitalismus kritisiert. Dennoch haben wir heute in der Klasse praktisch auf jeder dritten Seite mit Einwürfen à la >Ist das nicht genau wie heute?< zu rechnen, ob es nun um die demütigende Passkontrolle oder um den bürokratischen Unverstand geht; und es ist schon viel gewonnen, wenn das Klassengespräch sich nicht allzu sehr daran festbeißt und wenigstens keine Pauschalkritik unseres Systems unwidersprochen im Raum stehen bleibt - die sich durch unsachgemäßes Herausreißen Hammerschmittscher Formulierungen aus dem historischen Kontext ja allzu leicht erzeugen lässt (>Das Leben war nicht schön und wurde auch nicht schöner für die allermeisten, und es fühlte sich einfach nicht so an, als könnte sich das jemals ändern. Das war der Punkt.< u.v.a.m.)

Lohnend, wenn auch nicht ungefährlich, ist der Vergleich mit >Herrliche Zeiten<, einer fast zeitgleich erschienenen Erzählung von Karsten Kruschel, die ebenfalls auf einer Alternativhistorie beruht, in der die >DDR< >gewonnen< hatte (bei Kruschel aufgrund von Edelmetallvorkommen sagenhafter Größe). Kruschel geht es darum, die Arroganz und Siegermentalität der damaligen BRD durch diese >verkehrte Welt< vorzuführen und die vermeintliche Überlegenheit des Kapitalismus auf die glücklichere ökonomische Ausgangsposition des >Westens< zu reduzieren. Im Vergleich zu Kruschels Text wird die schmerzliche Genauigkeit von Hammerschmitts Annäherung an den DDR-Sozialismus besonders deutlich. Desto größer ist der Schock in >Polyplay<, als klar wird, dass es sich hier nur um eine Scheinrealität handelt, eine Computersimulation, die auf dem Serverrack einer exterritorialen Hardwarestation stattfindet, in der Realität eines neoliberal entgrenzten Kapitalismus, dessen Grausamkeit von ganz anderer Kaltschnauzigkeit und Menschenverachtung ist.

Es ist nicht zu leugnen, dass es Hammerschmitt an diesem Punkt um eine existenzielle gesellschaftliche Aussage geht, die seine Kapitalismuskritik bündelt und in dichterischer Form - nicht ganz unproblematisch - transzendiert: In einer Welt, wo das Individuum seine gesellschaftlichen Verhältnisse nicht selbst kontrolliert, sondern kontrolliert wird, macht nichts Sinn. Erwartungsgemäß ist es diese Kernaussage, auf die sich diejenigen unserer LAs stürzen, die keine Gelegenheit auslassen, den mühsam ausgehandelten Kompromiss unseres heutigen Integrierten Bildungssystems einseitig zu Gunsten der LAs radikalisieren zu wollen; und die auch an andere Gesellschaftsbereiche ohne jeden Respekt vor sachlogischen Verantwortlichkeiten die Lunte eines >selbstbestimmten< Unmittelbarkeitsfanatismus legen möchten. So schwer es sein mag: dies muss man aushalten. Die kundige PRP wird es so einzurichten wissen, dass diese Diskussion tendenziell am Ende einer Unterrichtseinheit erreicht wird, so dass ihr zumindest zeitlich eine Grenze gezogen werden kann.

Zu den unvermeidlichen Bürden der Schullektüre von >Polyplay< gehört natürlich die Auseinandersetzung mit dem Mythos der >Geisterkapitel<. Das Gerücht, analog zu den >Geisterspielen< in Spiel >Polyplay<, nach denen die Romanfiguren – vergeblich – suchen, enthalte auch das Buch >Polyplay< irgendwelche >Geisterkapitel<, ist heute zu einer urban legend geworden, der sich trotz ihres offenkundigen Unsinns Hunderte von Websites widmen. Ein näherer Einstieg in die Abgründe dieses verschwörungstheoretischen Wahnsinns ist unbedingt zu vermeiden; dennoch ist es notwendig, als PRP zumindest oberflächlich bescheid zu wissen. Im Buch wird Kramer, dem >Detektiv<, eine Karte zugespielt, auf der sich der Hinweis >S. 29, R.!< findet; in einem von ihm ausgeliehenen Buch entdeckt Kramer daraufhin, hingekritzelt auf Seite 29, die Aufforderung zu einem Treffen: >5.5. Späthbrücke, 21.00 Uhr<. Alle Legenden um die >Geisterkapitel< beruhen auf der fixen Idee, in diesen Zahlen stecke der erste entscheidende Hinweis, um zu einem versteckten Text, sozusagen einem bonus track des Buches zu kommen. Die primitivsten Versuche bestanden anfangs darin, auf Seite 29 aus allen Wörten mit >R< einen Text zu lesen, womit man irgendein Geraune über Kartenbesitzer und Staatsorgane erhält; oder in der Mitte des sechsten Wortes (5,5) eine senkrechte Linie nach unten zu ziehen und aus den Wörten, durch die sie läuft, einen Text zu bilden, usw. Andere Spekulationen gingen davon aus, dass auf Seite 29 weitere Zahlen auftauchen: 47 – 51 - 6,15. Blättert man z.B. auf Seite 47, stellt man fest, dass diese mit einer scharfen Polemik gegen >sozialistischen Pluralismus< beginnt, der nichts weiter sei als >sozialdemokratisches Wortgeklingel<; eine Passage, die im Buch als Zitat eines Verrückten getarnt wird. Dreht man die Ziffer um und geht zu Seite 74, endet diese wiederum mit der Kritik am >Oberflächensozialismus<, während sie ausgerechnet mit einer Passage über Kyptografie beginnt. Schon ist die erste Scheinplausibilität hergestellt: der Autor habe mit kryptografischen Methoden eine visionär vorausahnende Kritik der heutigen Pluralökonomie, die als >Oberflächensozialismus< denunziert wird, in seinem Buch versteckt. Bildet man aus all diesen Zahlen nun Logarithmen, Quadrate usw. und füttert damit ein Computerprogramm, das nach bestimmten Formeln die Buchstaben des Textes auszählt und dabei lexikalisch und grammatikalisch unsinnige Ergebnisse gleich wegkürzt, so lassen sich nahezu beliebige Texte aus dem Buch >sichtbar machen<. – Es ist hoffnungslos, Jugendliche rational überzeugen zu wollen, dass all dies Aberwitz ist. Auch die bekannte Tatsache, dass die Legende sehr wahrscheinlich vom notorisch kränkelnden Argument-Verlag in Umlauf gebracht wurde, um - 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung - die Nachfrage für einen Seitenspiegel-getreuen Reprint der Originalausgabe anzuheizen, wird nichts helfen. Mit dem Hinweis, der Autor habe alle Gerüchte über die >Geisterkapitel< immer als >Quatsch< zurückgewiesen, kann man sich als PRP nur lächerlich machen: welcher Verfasser von Geheimtexten würde dies schon im Interview zugeben?

Für den Fall, dass sich einige SpezialistInnen unter ihren LAs befinden, sollte sich die PRP auch mit den Grundzügen der literarischen Gattung >Science-Fiction< befassen. Die >Science-Fiction< war im späten 20.Jahrhundert die beherrschende Literaturgattung, in der die interessantesten AutorInnen Zuflucht suchten, um in verfremdeter Form Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben oder tastend nach einer Systemalternative zu suchen. Auch hier ist wieder die Parallele zur bürgerlichen >Aufklärung< signifikant, die ebenfalls ein reiches Repertoire an Formen (Satire, Groteske, utopische Erzählung) nutzte und in der die Entdeckung der >Wildnis< und der >Wilden< jenen utopischen Projektionsraum bot, den im Spätkapitalismus die >wissenschaftliche< Zukunftsfiktion der >Science-Fiction< darstellte. Es ist eben in den Phasen, wo der historische Grundwiderspruch am schärfsten zugespitzt ist, dass jede realistische Kritik und Avantgarde gleichermaßen völlig unzureichend erscheint und dennoch in steter Gefahr ist, schnell kriminalisiert zu werden, weil die sozialen Kräfte noch nicht gereift sind, deren reale Gegenmacht ihr sowohl Schutz als auch Gegenstand sein kann. Diese Ausführungen werden jedoch die Jugend kaum fesseln können; geeignet ist eher eine Unterrichtseinheit mit historischem Filmmaterial aus der damaligen >Science-Fiction<, das auch heute noch ganz unterhaltsam wirken kann (downloads unter www.prp-help.eu/füllsel). Allenfalls lässt sich der Hinweis anbringen, dass Hammerschmitt mit >Polyplay< sich von der >Science-Fiction< bereits verabschiedet, sie geradezu dekonstruiert; so wie auch der US-Romancier William Gibson zeitgleich seine Romane immer weiter aus der Zukunft an die Gegenwart heranführte und, wie Hammerschmitt, der >Science-Fiction< den Übergang in die Stilrichtung des >potenziellen Realismus< wies. Mit dieser Gattung wagten beide sich in den Folgejahren an die Schilderung der neuen, systemüberwindenden Kräfte heran, wenn auch noch mit der ganzen analytischen Unschärfe der damaligen >multitude<-Debatte, die am Schluß von >Polyplay< bereits aufscheint: >Natürlich kann es für dich jetzt nicht mehr darum gehen, zu erkennen, was Polyplay eigentlich ist. Schließlich weißt du das schon. Jetzt ... geht es um die Frage: Was macht einer wie du ... wenn er um seine Identität weiß ... Was macht der Moralist Rüdiger Kramer in einer Welt, in der er über einen gewaltigen Informationsvorsprung verfügt, aber über keinerlei Macht? Nimmt er seine Lage hin? Rebelliert er dagegen? Wird er jemanden finden, der ihm glaubt? Wer weiß, vielleicht gibt es in dieser Welt doch noch andere wie ihn? ... Das sind Fragen, die neu und interessant sind. Sogar für uns Götter.<

Welcome to the desert of the real: Dieses Baudrilliardsche Zitat beschreibt am ehesten das Zeitgefühl der historischen Epoche, in der >Polyplay< entstand, und dem Hammerschmitt mit dem Showdown zwischen Oberleutnant Kramer und den >Göttern< schneidenden Ausdruck verliehen hat, bis hin zu ersten zögernden Schritten in ein neues Selbstbewusstsein dieser Identität, deren Absurdität er jetzt begreifen, ja sogar >genießen< kann, und die ihn gegenüber jenen stärkt, die – ohne das gesellschaftliche Bewusstsein, das Kramer jetzt errungen hat - >weniger leben< als er. In einer Welt, wo das Individuum seine gesellschaftlichen Verhältnisse nicht selbst kontrolliert, sondern kontrolliert wird, macht nichts Sinn: außer vielleicht, die Wahrheit zu erkennen, als Vorstufe der Veränderung dieser Verhältnisse. Kramer wird sich aufmachen, andere zu finden und die Grenzen der Macht der >Götter< herauszufinden, die ihrerseits von der Existenz des Spiels und der Leistung ihrer >Emergenzen< abhängig sind. Wir müssen uns Rüdiger Kramer als einen glücklichen Menschen vorstellen.


Stud.Rat Gottlieb Günzburg

Übersetzung aus der Zukunft: Christoph Spehr

 

 

 

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