Micha Brumlik


Laudatio zum Essaypreis der Büchergilde Gutenberg 1998 für den Essay "Radiohead - Meditationen über Rock'n Roll" von Marcus Hammerschmitt, gehalten am 6.10.98 in Frankfurt


Lieber Herr Hammerschmitt, meine Damen und Herren, gelegentlich lohnt es, dem Genius zu loci zu huldigen. Wir befinden uns heute abend in der "Loge zur Einigkeit", in den Räumen einer Lebens- und Glaubensgemeinschaft, die sich bis heute dem paradoxen Unterfangen widmet, der Aufklärung religiöse Züge abzugewinnen - die Freimaurer. Die Aufklärung, ihre Paradoxien, Widersprüchlichkeiten und ihre Dialektik waren auch das Lebensthema der nach Frankfurt zurückgekehrten jüdischen Emigranten Theodor W.Adorno und Max Horkheimer, deren epochaler Großessay "Dialektik der Aufklärung" vor gut 50 Jahren, im Jahr 1947 in Amsterdam erschien.

Wir haben Marcus Hammerschmitt den Essaypreis der Büchergilde deshalb verliehen, weil es ihm in seinem Essay "Radiohead - Meditationen über Rock'n Roll" in exzellenter Weise gelungen ist, Motive dieses Buches, der "Dialektik der Aufklärung" aufzunehmen, und dessen Geist gegen die geschmacklichen Vorurteile seiner Verfasser zu aktualisieren. Jugend, Politik und (Sub)kultur:

Die Jugend - sie geriet in den letzten Jahren und auch in diesem Jahr in den Brennpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit: Sei es als als Inbegriff von Brutalität und Gefährdung, von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Sorgenkind oder Rettungsinstanz. Von den rechtsextremistischen Schlägern in den sogenannten "national befreiten Zonen" in Ostdeutschland über den ersehnten Nachwuchs in den politischen Parteien bis hin zu den zu "Studierenden" mutierten Studenten - wenn sich diese Gesellschaft und ihre Repräsentanten überhaupt noch über Perspektiven äußerten, taten sie das anhand des Jugendthemas.

Die Politik - sie hat gewechselt, und trotzdem: Die allseits vermerkte Freudlosigkeit angesichts eines in der Tat epochalen Wahlergebnisses, einer für Deutschland durchaus unwahrscheinlichen Machtkonstellation, sollte einen Augenblick zum Einhalten bewegen. Gefühle lügen nicht. Mindestens die Älteren hier im Raum werden sich noch des Staunens, der Euphorie, der Freude und der Erregung der ersten Willy Brandt-Wahl im Jahr 1969 und seiner Bestätigung im Jahr 1972 entsinnen. Nichts von alledem im Jahr 1998, eine um ihre Illusionen und wohl auch um ihre Hoffnungen gebrachte Generation greift nach der Macht, ihre eigenen Grenzen so klug antizipierend, daß darüber die Reformimpulse schon im Anfang erlahmen. Immerhin - es sollen 100 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze für Jugendliche geschaffen werden.

Die Kultur - wenn nicht alles trügt, wird es demnächst eine Art Bundeskulturminister welchen Titels auch immer geben, ein Umstand, der bei aller Skepsis dieser Institution gegenüber mindestens eines deutlich macht: daß die Deutung, symbolische Formung und deutende Einbettung des materiellen Schicksals der Menschen für eine, für jede Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist, von so wesentlicher Bedeutung, daß ohne sie von einer menschlichen Gesellschaft nicht zu sprechen wäre.

Marcus Hammerschmitt hat sich in seinem Essay einer Artikulationsform des materiellen Zusammenlebens der Menschen in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft zugewandt, dem Rock’n Roll, einer als jugendgemäß geltenden Kunstform, die zum Ausdruck bringt, daß alles neu ist und nichts sich doch ändert, eine Kunstform, die durch ihren Ersatz- und Plagiatscharakter Entscheidungen auch noch dort vorspiegelt, wo es in Wahrheit nichts mehr zu entscheiden gibt. Im Rock'n Roll, so zeigt uns Hammerschmitt in ebenso funkelnden wie präzisen Analysen, wird der Zustand einer Gesellschaft beglaubigt, die im Grundsatz blockiert ist. Schon die Analyse diese Zustandes beglaubigt ihn und lässt deshalb den Essayisten, das jugendlich rebellische Subjekt, in einer naiven Art und Weise verzweifeln, die Horkheimer und Adorno, an deren "Dialektik der Auffklärung" Hammerschmitt anschließt, so nie aus der Feder geflossen wäre: "Es ist so einfach", beschreibt Hammerschmitt die eigene Tätigkeit "die Kapriolen des Musikgeschäfts auf die jederzeit übermächtigen gesellschaftlichen Nöte zurückzuführen, daß es schon keinen Spaß mehr macht."

Die Einsicht in die Ausweglosigkeit der kapitalistischen, die Kultur von innen durchdringenden Warengesellschaft führt so zu einem souverän gemeisterten kulturkritischen Degout an der Welt, der nicht ungefähr an konservative Geister erinnert, in einem Fall sogar und gewiß bewußt an Ernst Jünger1. Der Abschnitt 8 von Hammerschmitts Essay, der Rocktitel ebenso in seine Untersuchungen einbezieht wie die Moden naturwissenschaftlicher Argumentation, das Gerede über Chaostheorie und Fraktale, ist von lakonischer Kürze:

"Neulich", so wird notiert, "bei einem Waldspaziergang, an einem Wagen vorbei, in dem zwei Männer schlafend lagen, während aus den Fenstern Gitarren zirpten: schrille endlose Reihungen, wie der Tanz von Wellen auf dem Bildschirm eines Oszillokops. So ist unsere [ganze]2 Gesellschaft."

Die Gitarren zirpen wie Grillen, der durch die Mittel der Elektronik simulierte Klang ruft eine Erinnerungsspur auf - die Erinnerung ans Glück, ans wahre Leben. Indem Marcus Hammerschmitt Horkheimer und Adornos Kulturindustriekapitel fortschreibt, ruft er vor allem wieder auf, wozu sich Adorno eher verschämt bekannte: nämlich eine Ethik, eine Lehre vom besseren Leben vor dem Hintergrund der Beschädigungen dieses Jahrhunderts. Damit bestätigt er auf verblüffende Weise eine neueren Trend, Fragen der Gesellschaftstheorie durch eine kritische Lehre vom guten Leben zu ergänzen.Wenn hier von der "Gutheit", von der "moralischen Qualität eines guten Popsongs" geschrieben wird, so ist von nichts anderem die Rede als von der Tugend dieses Songs; dessen Tugend, d.h. Angemessenheit darin besteht, die "zentralen Probleme der Humanität: Liebe, Gewalt und die Beziehung zum Göttlichen" sowie die Frage nach dem Wirtschafssystem zu reflektieren. Das alles mag einem genauen soziologischen Vierfelderschema, einer Kreuztabelle nicht genau entsprechen, der Autor stellt die ethische Frage ganz unverblümt. Als des Rock'n Rolls Kenner belehrt er uns darüber, daß in einem von zehn Songs Engel auftauchen - die über’s Radio vermittelte Stimme der körperlosen Sehnsucht. In ihnen, den Boten Gottes, meldet sich die Frage nach dem guten, dem wahren Leben wieder. "Nein", so widerspricht Hammerschmitt Theodor W.Adorno und dessen Verdikt aus den ,,Minima Moralia", "das wahre Leben ist im Falschen nicht möglich, aber das einzige Leben, das im Falschen möglich ist, vertritt dennoch das Wahre, und so verhält es sich mit dem Rock'n Roll auch." Als Beispiel für diese These dient - wir sind bei den Engeln - ein Song der "Rolling Stones" betitelt "Angie" - Engelchen, in dem der Refrain heißt: "You can say we're satisfied, you can say we never tried."3

Marcus Hammerschmitt ist es in seinem philosophisch ebenso anspruchsvollen wie musiktheoretisch genauen, seinem ebenso kenntnisreichen wie rockig komponierten Text gelungen, jene Gehalte an Wunsch, Hoffnung und Sehnsucht, die Jugendliche sich zu eigen machen, ans Licht zu heben. Wir, die Politik, die Kulturindustrie - wir sind bei einem Verlag - und die Wissenschaft sollten auf diese Stimmen hören. Wir sollten auf diese Stimme hören, denn es stellt einen Unterschied ums Ganze dar, ob wir jenen Wunsch aufnehmen, der aus vielen Songs - wie Hammerschmitt zeigt - klingt, nämlich der Wunsch, eine Stimme, eine mütterliche Stimme zu hören, die da sagt: "Du bist willkommen!" oder ob wir zu jenen gehören, die diese Wünsche zwar wahrnehmen, aber nur vermarkten. Für solche Menschen hat der Moralist Marcus Hammerschmitt ein schreckliches Bild übrig. "Es kommt", so charakterisiert er die Kulturindustrie "in diesem Geschäft nicht auf Kontrolle, sondern auf die bis zur Bewußtlosigkeit gesteigerte Intuition des Hais an, der Blut eher riecht, als es aus dem Kreislauf seiner Opfer ausgetreten ist."

Marcus Hammerschmitt hat in seinem anschaulich und stets eng am Material auf jene Hoffnungspotentiale verwiesen, die in der Hülle von Waren das Leben von Jugendlichen normieren. Indem er die "Dialektik der Aufklärung" fortschreibt und sich der deformierten Sehnsucht nicht nur beobachtend stellt, sondern ihr zugleich eine, seine Stimme verleiht, ist der dem Thema "Jugend, Politik und (Sub)kultur" so nah auf den Leib gerückt wie nur möglich und so nah, wie wir uns das nur wünschen konnten.

Der letzte Abschnitt seines Essays führt uns über die Adaptation von Classic-Themen in die Romantik und damit zurück nach Deutschland. "Wenn wir im Höchsten, zu dem wir Deutschen", heißt es da in einem ungewöhnlich deutlich national bewußten Tonfall "uns so gern versteigen, nur die Wahrheit finden, was finden wir dann im Schund, den das Bildungsideal nur verhöhnen, aber nie besiegen kann?" Das führt uns zurück zum genius loci und zu seiner Musik. "Sie quält verschmähter Liebe Leiden, laßt uns der Armen Trost bereiten! Fürwahr ihr Schicksal geht uns nah! Oh wäre nur ihr Jüngling nah..." So singen die drei Knaben im letzten Akt der Zauberflöte über Pamina, die sich in Sehnsucht verzehrt. Marcus Hammerschmitt hat mit der deutschen Romantik seine Probleme, obwohl sie doch ihrem eigenen Selbstverstänndis nach vor allem Artikulation der Sehnsucht war. Womöglich sind sich Romantik und Rock'n Roll darin näher, als er sehen will, aber das wäre bereits der Beginn einer Debatte über seinen brillanten Essay, die wir durch seine Publikation befördern wollen. Ansonsten sollten wir tun, was er der Rock’n Roll-Industrie zuschreibt, nämlich den Verhältnissen die eigene Melodie vorzuspielen "und die Verhältnisse" so unser Preisträger "tanzen gerne". Die Menschen, die unter diesen Verhältnissen leben, auch.


 

Anmerkungen

1) Diese Aussage hat mich schwer nachdenklich gestimmt. Ich bin nun wirklich kein großer Jünger-Leser, von daher halte ich die Gefahr einer Kontaminierung für relativ gering.

2) Einfügung laut Originaltext, M. H.

3) M. Brumlik meint wohl folgende Stelle im Text von "Angie":

With no loving in our souls and no money in our coats
You can't say we're satisfied
But Angie, I still love you baby, ev'rywhere I look I see your eyes
There ain't a woman that comes close to you, come on
baby, dry your eyes

But Angie, Angie, ain't it good to be alive
Angie, Angie, they can't say we never tried

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