Radiohead

Meditationen über Rock'n Roll

1.

Der Rock`n Roll ist die Sphärenmusik, den die Planeten im kapitalistischen System bei ihrem Umlauf um das Zentralgestirn des Profits machen. Dessen Bewohner glauben immer noch, daß sie der Nabel der Welt sind. Den Soundtrack zu ihrem arroganten Lebensstil liefern die Stahlgewitter der elektrischen Gitarren, die die Satelliten auf sie herniederregnen lassen. Alles tanzt, der amerikanische Präsident spielt Saxophon, und wem dabei die Ohren schmerzen, der soll sehen wo er bleibt. In besagtem Sonnensystem ist eine populäre Musik selbstverständlich, und es bringt jeweils genau diejenige Art davon hervor, die den Umlaufbahnen seiner Gestirne entspricht. So entstehen die Moden des Klangs, wo alles immer neu ist, und nichts sich ändert. Schicksalhafte Konjunktionen bringen Figuren wie Jimi Hendrix hervor, die ihrerseits von kleineren Körpern umkreist werden. Paul Scheerbart steht am Mischpult und dirigiert seine Helden Lesabendio, Nax und Dax durch eine kosmisch - metaphysische Muppetshow, als Teil einer Entertainmentveranstaltung, die das ganze Universum miteinbeziehen will. Der Wahn des globalen Infotainmentdorfs hat nirgendwo sein klareres Abbild gefunden als in Douglas Adams' Phantasien von der Rockband Disaster Area, die von einem Kontrollschiff im Orbit aus ihre Instrumente am Erdboden bedient, weil die Soundanlagen so groß sind, daß sie Erdbeben verursachen. Die Industrie, der große Vereinheitlicher, kann nicht dulden, daß irgendein Sektor des Markts ihr technologisch hinterherhinkt. Deswegen ist die Anwendung der jeweils neuesten Technik in der Unterhaltung ein Muß und der Allgemeinentwicklung vollkommen angemessen. Ohnehin sind die nie verstummenden Klagen über die Technifizierung des Rock'n Roll lächerlich. Daß jemand noch auf einer akustischen Gitarre Musik machen kann, ist kein Hinweis darauf, daß nun die Natur sich ihr Recht zu bahnen beginnt. Ganz im Gegenteil. Das Video, das wir eine Woche später von diesem Jemand auf MTV zu sehen bekommen, belegt die Wirkkraft der Technik, und sähe der Künstler hundertmal so aus, als käme er direkt aus dem Wald. Die Popmusik ist der Triumph der Technik auf dem Gebiet des Klangs. Der Rock'n Roll hat sich von Anfang an des Radios bedient; ohne es wäre er gar nicht entstanden. Schlagzeug und Percussion sind nicht das instrumentale Kernelement der Popmusik, denn sie funktionieren ohne Elektrizität sehr gut. Aber es gibt nichts kümmerlicheres als eine elektrische Gitarre, die nicht angeschlossen ist. Auf der Macht des Verstärkers beruht ihre ganze Wirkung, und sei er noch so klein. Die geniale Idee, Stahlseiten zum Induzieren eines elektrischen Stroms in eine Kupferdrahtspule zu benutzen, und diesen Strom mithilfe einer anderen elektrischen Vorrichtung zu verstärken, hat aus der Gitarre etwas gemacht, von dem ihre maurisch - arabischen Erfinder nicht einmal träumten: die elektrisch verstärkte Stimme einer Welt. Freilich rollt diese Welt über all jene Stimmen hinweg, die anders klingen. Aber diesen Preis scheint eine Menschheit gern für den Sound zu bezahlen, der die Himmel mit seinem Geschrei erfüllt. Der Kampf, den Jimi Hendrix mit seinen Gitarren kämpfte, folgt genau der Bruchlinie zwischen den vernichteten Stimmen der Weltmusik und dem elektrischen Klang der Instrumente, die über sie triumphierten: Spiel mir etwas anderes, sagte er zu seinen Instrumenten, als das, was wir schon kennen. Die elektrische Gitarre war schon am Ende ihrer technischen Entwicklung, als er [Ende der fünfziger Jahre] [Anfang der sechziger Jahre ernsthaft Gitarre zu spielen] anfing, seine Schuhe als Kapodaster zu benutzen. Schließlich zündete er seine Gitarren auf offener Bühne an, um ihnen einen neuen Klang zu entlocken. Niemand hat Hendrix gröber mißverstanden als seine Zeitgenossen. Keineswegs wollte er seine Musik zur Sturmfront einer Kulturrevolution in den westlichen Gesellschaften machen. Der im Vergleich zu heutigen Möglichkeiten furchtbar grobe Sound seiner Gitarre, der unverkennbar seiner melancholischen Grundhaltung entspringt, beklagt vielmehr pausenlos die Niederlage, die der Klang in der Schlacht mit der Elektrizität bereits erlitten hat, und daß er dies mit eben den Mitteln des Rock'n Roll tut, die gegen seinen Willen den Sieg davongetragen haben, macht seine ganze Tragik aus. Hier wie überall sonst rettet die Klage die Stimme der Besiegten in den Triumphchor der Sieger hinüber. Mit Jimi Hendrix begann die Reflektion des Rock'n Roll über die Macht der Technik, mit ihm endete sie auch.

 

2.

Nicht die Ordnung der Natur ist fraktal, sondern die der Gesellschaft. Ganz wenige Themen dringen, in unendlich feine Varianten ihrer selbst zerspältelt, zum Chaos vor, das unvorhersagbar ist, aber nach deterministischen Gesetzen erreicht wird. Der Ereignisraum, den unsere Kultur durch das Austreiben immer neuer, minimal veränderter Versionen ihrer Grundmuster bildet, ist sehr eng, niemals wiederholt sich ein Film, ein Song ganz, aber niemals wir auch etwas gestattet, das diesen Ereignisraum ganz verließe. Der Ersatz ist immer schon da. Wenn Kurd Cobain sich den Kopf abschießt, steht eine Woche später ein Sänger mit fast, aber auch nur fast genau gleicher Stimme auf der Bühne. Walter Benjamin sagte: die Mode tut den Tigersprung in die Geschichte. Das ist wahr, aber das Tier springt nicht nur in die Geschichte hinein (und verwandelt diese dadurch in einen Fundus), sondern es kehrt aus ihr auch wieder zurück, zieht die Beute in sein Versteck, um sie behäbig, und nach den ersten Bissen schon satt und gelangweilt, zu verspeisen und zu verdauen. Aus den zurückgelassenen Abfällen, aus dem was es ausscheidet, bildet sich mit der Zeit in jener Höhle eine 1:1-Abbildung der Geschichte selbst, in der die Versatzstücke, miteinander verklebt durch den Kot der Langeweile, in totaler Gleichzeitigkeit koexistieren. Die Kulturindustrie kann sich das bekannte Verfahren der Museen, neun Zehntel der Sammlungen im Keller archiviert zu halten, nicht leisten, sie braucht alles parallel, in Echtzeit, das Ereignis kann nicht warten, bis ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Kleidung, ein bestimmter kluger Spruch entstaubt und aus dem Keller hervorgeholt sind, es muß alles immer da sein. Der höchste Wert in der Kulturindustrie ist Alertheit. Die Mode muß von Ägypten nach Brooklyn, von Stonehenge nach Moskau und auf Umwegen wieder zurückspringen können, und zwar sofort, auch wenn es nur gilt, die Drehbuchschreiber der Flintstones, die Texter von Bananarama, oder den Regisseur von Gorki Park zu bedienen. Wer sich die solchermaßen gleichzeitig völlig fraktalisierte und parallelisierte Welt der Kulturindustrie vor Augen hält, begreift, daß nichts in ihr so überflüssig ist, wie die Frage nach der Echtheit, es sei denn um die Fans beschäftigt zu halten mit den Fragen, um die es eben nicht geht. Wo alles gestohlen ist, gibt es keinen Diebstahl mehr. Die Kulturindustrie erledigt auf ihre Art den kategorischen Imperativ Kants, der das Stehlen für sittlich unmöglich hielt, weil der Dieb jederzeit befürchten müßte, wiederum bestohlen zu werden. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert; stiehlt eine anderer eine Melodie von dir, so macht er sich zu deinem Werbeträger, die Profite aus der gestiegenen Publicity durch Urheberrechtsprozesse teilen sich dann "Opfer" und "Täter" in brüderlichem Übereinkommen. In der Tat ist das Plagiat absolut notwendig, denn nur so kann die fraktale Kulturindustrie den ihr zustehenden Raum mit der Wolke von Kulturereignissen füllen, die den Konsumenten den Blick nach draußen verstellt. Daß sich in dieser chaotischen Wolke durch Selbstorganisation Inseln der Ordnung herausbilden, ist ebenso selbstverständlich wie nebensächlich. Jeder Kulturmanager, der glaubt, er könne die Mode steuern, ist des Todes. Es kommt in diesem Geschäft nicht auf Kontrolle, sondern auf die bis zur Bewußtlosigkeit gesteigerte Intuition des Hais an, der Blut eher riecht, als es aus dem Kreislauf seiner Opfer ausgetreten ist. Weil sie glaubten, die Produkte ideologisch steuern zu müssen, waren die Kulturindustrien der sozialistischen Länder denen des Kapitalismus jederzeit unterlegen, bei denen die Ideologie nie im einzelnen Produkt, sondern immer nur in der ganzen Veranstaltung liegt. Morgen können die Frisuren der Beatles wieder aktuell sein, und übermorgen der Punk; es ist nicht wichtig, wofür sich das Publikum entscheidet, nur daß es sich entscheidet, dafür muß gesorgt sein. So wie unser Leben fast wie wirkliches Leben aussieht, sieht das Gehüpfe der Kulturindustrie fast wie Freiheit aus. Die vorletzte wissenschaftliche Mode war die vom Chaos, und schon glaubten die Mathematiker, das Ding an sich errechnet zu haben, obendrein auch noch mit relativ einfachen Formeln, wenn auch die Zahlen komplex hießen. Ein nach fraktalen Algorithmen vom Computer errechnetes Wolkenbild sieht der Wolke ebenso ähnlich wie die Freiheit der Wahl in der Kulturindustrie der Freiheit selbst gleicht, aber was nützt es? Die Dinge an sich verbergen sich immer noch. Und so ist die Idee vom Rock'n Roll als Sphärenmusik im Planetensystem des Kapitalismus das passende Bild zu der Wahnidee, die Welt sei aus Fraktalen gemacht: denn auch die Bahnen der Planeten sollen ja chaotisch sein, und doch sind sie seit Urzeiten nie aus dem Takt geraten. Also werden voraussichtlich auch die Sonne der Liebe, der Stern der Gewalt und der Planet der göttlichen Energien, die das Trabantensystem des Rock'n Roll ausmachen, ewig um ihr Zentralgestirn kreisen, bis jemand entdeckt, das auch dieses Gestirn sich bewegt.

(...)

© Marcus Hammerschmitt, 1998