Seidenschläfer (Leseprobe)


Erzählung v. Marcus Hammerschmitt


Endlich werden wir verschenkt. Es hat diesmal lange gedauert, und unser Hunger ist groß. Auch unsere Larven hungern schrecklich. Das wird sich bald ändern.

In einem feinen Haus zu sein ist von Vorteil. Nur feine Häuser können sich Seidenschläfer leisten. Wir lesen mit, wenn jemand in unserer Nähe liest, wir hören Musik und sehen Kunst. Wir erfahren alles aus der Zeitung, und wir sehen fern. Hier sind wir offenbar bei einem Dirigenten gelandet, der gerade seine Karriere auf dem internationalen Parkett beginnt, sehr beschäftigt, oft nicht da, aber an Weihnachten wird er natürlich nach Hause kommen, die Arme voller Geschenke, das Herz voller Finsternis. Bald wird er sehr glücklich sein.

Die Kindern sollen uns nicht sehen, wir sind ja ihre Geschenke. Deswegen trägt die Haushälterin, die uns auch füttert, nur morgens in die Dirigentenwohnung, wenn die Kinder in der Schule sind. Mischa und Anuschka, ein Junge, ein Mädchen, wie sich's gehört. Die Haushälterin lebt in der unteren Etage. Sie ist übrigens steindumm, ihre Koseworte und ihr ständiges Gestreichel beim Füttern sind fast nicht zu ertragen, und wir wollen sie oft beißen oder löschen, aber dann besinnen wir uns: Es bringt nichts, sich den Magen zu verderben, und eine Löschung der Haushälterin würde natürlich dumme Fragen provozieren. Aber manchmal können wir uns nicht zurückhalten. Dann essen wir schon mal ein wenig. Nicht dieses furchtbare Kaninchenfutter, dass sie uns ständig vorsetzt, sondern wirkliche Nahrung. Rot glühend wird dann unsere Gier, und die Larven zucken unruhig um uns her. Aber sie sieht nur den putzigen Tieraspekt. Wir müssen warten, es sind ja nur noch zwei Tage.

Als wir uns zuerst entdecken ließen, waren wir unsicher. Würden die Menschen sich täuschen lassen? Würde der Trick mit dem Fell funktionieren? Und wie sie sich täuschen ließen, die Simpel! Und wie der Trick mit dem Fell funktionierte! Was müssen wir immer lachen über Berichte in den Zeitungen und im Fernsehen – auch so ein seltsames Menschenkonzept, "Medien" – die von unserem Fell sagen, es wirke "wie aus einer anderen Welt". So schillernd, so unsagbar fein gemustert sei es. Wir haben es so eingerichtet, dass sich der Schimmer verliert, wenn man uns nur tötet – oder den Tieraspekt tötet, genauer gesagt. Seidenschläfermäntel in den Schaufenstern der exklusivsten Modehäuser der Welt, zehnmal so teuer wie feinste Vicunawolle – das hätte ihnen so gepasst. Uns gibt es nur lebend und aktiv.

Natürlich hat man die Jagd auf uns, unseren Verkauf und unsere Ausfuhr streng verboten. Wir fallen unter die strengsten Paragraphen des Artenschutzabkommens. Weil wir so selten sind. Das macht uns auch zu idealen Geschenken für die Kinder reicher Leute. Der Dirigent hat ein Vermögen bezahlt. Er hat die Haushälterin zu strenger Diskretion angehalten, er kam sogar in ihre Wohnung, was er sonst nie tut, wir waren dabei in unserem Käfig. "Strenge Diskretion!", sagte er. "Verstehen Sie?" Wenn man ihn so ansieht, könnte man meinen, er dirigiert auch, wenn er nicht im Orchestergraben steht.

(...)

© Marcus Hammerschmitt, 2005