Vorbemerkung

"Neulich bin ich in Basel in eine Buchhandlung gekommen, da fand ich das neueste Programm dessen, was gedruckt wird: ein Negerroman, wie überhaupt jetzt Neger allmählich in die Zivilisation von Europa hereinkommen! Es werden überall Negertänze aufgeführt, Negertänze gehüpft. Aber wir haben ja sogar schon diesen Negerroman. Er ist urlangweilig, greulich langweilig, aber die Leute verschlingen ihn. Ja, ich bin meinerseits davon überzeugt, wenn wir noch eine Anzahl Negerromane kriegen und geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, in der ersten Zeit der Schwangerschaft namentlich, wo sie heute ja gerade solche Gelüste manchmal entwickeln können - wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, da braucht gar nicht dafür gesorgt zu werden, dass Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen; da entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze Anzahl von Kindern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare haben, die mulattenähnlich aussehen werden." (Rudolf Steiner in: "Über Gesundheit und Krankheit", Gesamtausgabe Bd. Nr. 348, Rudolf Steiner Verlag, Dornach / Schweiz, 1976, Seite 185.) - Dieses Zitat Rudolf Steiners ist eines der erstaunlicheren, wenn man bedenkt, daß die Anthroposophie in der Öffentlichkeit nur als ein Verein von Menschen mit leicht schrulligen Ideen zu Architektur und Ökologie angesehen wird, macht es doch die tief rassistische und antirationale Ausrichtung ihres Gründers Rudolf Steiner deutlich. Der folgende Test von Sven Ove Hansson, Philosoph am königlichen Institut für Technologie in Stockholm, beschäftigt sich mit der Frage, ob die Anthroposophie mit Recht eine Wissenschaft genannt werden kann, wie sie das von sich behauptet. Die Übersetzung ist von Sven Ove Hansson autorisiert.

 

Ist die Anthroposophie eine Wissenschaft?

von Sven Ove Hansson, Uppsala

(aus: Conceptus XXV (1991), No. 64, pp. 37-49)

Übersetzung: Marcus Hammerschmitt


Zusammenfassung

Die Anthroposophie ist eine der erfolgreichsten okkulten Bewegungen in Europa. Dieser Text untersucht ihre Behauptung, eine Wissenschaft zu sein. Zwei Kriterien, die beide vom Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, als gültig angesehen wurden, werden für diese Untersuchung benutzt: (1) Intersubjektivität, und (2) empirische Überprüfbarkeit. Die Anthroposophie scheitert an beiden Kriterien. Die Behauptung, die Anthroposophie sei eine Wissenschaft, ist nicht gerechtfertigt.

Die Anthroposophie, ursprünglich aus der Theosophie erwachsen, ist eine der erfolgreichsten okkulten Bewegungen in Nord- und Mitteleuropa. Sie gewinnt ständig neue Anhänger durch ihre Waldorfschulen, ihre alternative Medizin und ihre pestizidfreie Landwirtschaft. Anthroposophie ist jedoch mehr als eine bloße Ansammlung von sozialen Bewegungen. Ihre Anhänger behaupten, sie sei eine Wissenschaft. Die Stärke und der Einfluß der anthroposophischen Bewegung sind Grund genug für eine Untersuchung der Frage, ob das tatsächlich stimmt. Ein anderer Grund besteht darin, daß präzise und verbindliche Aussagen zu ihrer Wissenschaftslehre verfügbar sind, so daß die Anthroposophie einer philosophischen Analyse zugänglicher ist als die meisten anderen Bewegungen, die ähnliche Ziele und Methoden aufweisen.


1. Das anthroposophische Wissenskonzept

Anthroposophie ist eine Lehre über versteckte, spirituelle Realitäten. Sie fußt fast ausschließlich auf den Lehren ihres Gründers Rudolf Steiner (1861 - 1925). Steiners Ansichten werden in der Praxis der anthroposophischen Bewegung niemals in Frage gestellt, und sehr wenig Neues ist nach seinem Tod dem Gedankengebäude hinzugefügt worden. Steiners Schriften geben auch Auskunft über die Wissenschaftslehre der Anthroposophie.1

Steiner bestand darauf, ein Wissenschaftler zu sein. Für seine Wissenschaft benutzte er verschiedene Begriffe in synonymer Weise: "Geheimwissenschaft", "Göttliche Wissenschaft", und, in der Mehrzahl der Fälle, "Geisteswissenschaft".2 Seiner Ansicht nach soll die "Geisteswissenschaft" "über Nicht-Sinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht."3 Angeblich funktioniert diese Wissenschaft dadurch, daß sie dem Adepten zu einer Fähigkeit verhilft, spirituelle Realitäten unmittelbar zu schauen, auch "Hellsicht" genannt. Der Prozeß zur Erlangung dieser Fähigkeit wird als "Einweihung" bezeichnet.4 Steiner hat recht detaillierte Richtlinien für die ersten Stadien des Einweihungsprozesses aufgestellt. Manche Menschen verfügen nach Steiner über eine Persönlichkeit, die die Entwicklung der Hellsicht fördert.

"Es gibt Kinder, die mit heiliger Scheu zu gewissen von ihnen verehrten Personen emporblicken. Sie haben eine Ehrfurcht vor ihnen, die ihnen im tiefsten Herzensgrunde verbietet, irgendeinen Gedanken aufkommen zu lassen von Kritik, von Opposition ... Aus den Reihen dieser Menschenkinder gehen viele Geheimschüler hervor." 5

Wenn ein Schüler nicht mit dieser Geisteshaltung geboren worden ist, so muß er danach trachten, daß er "durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung energisch in sich zu erzeugen unternimmt". Denn "jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebenso sehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt"6

Wenn der Schüler seine kritischen Fähigkeiten losgeworden ist, besteht der nächste Schritt darin, tägliche Meditationen durchzuführen. Eine der Meditationen, die Steiner beschrieb, ist, einen Samen zu betrachten und mit dem inneren Auge zu sehen, wie er sich zu einer erwachsenen Pflanze entwickelt. Schritt für Schritt soll das zu der Fähigkeit führen, die potentielle Pflanze in dem Samen zu sehen.7

Um Hellsicht zu entwickeln, muß der Schüler ständig seine inneren Tendenzen zu Analyse und Kritik unterdrücken. "Durch solche Verstandesarbeit bringt er sich nur von dem rechtem Wege ab. Er soll frisch, mit gesundem Sinne, mit scharfer Beobachtungsgabe in die Sinnenwelt sehen und dann sich seinen Gefühlen überlassen."8 Oder, in anderen Worten:

"Wir müssen uns sagen: unser Denken hört auf, und unser Kopf wird der Schauplatz des Wirkens der höheren Hierarchien."9

Der Hellseher, auf diese Weise ein Wissender geworden, "hat auch schon das Beweisende erlebt; es kann nichts durch einen von aussen hinzugefügten Beweis geleistet werden." 10

Der erfolgreiche Hellseher wird dramatische geistige Wandlungen erfahren. Vorher war sein Bewußtsein "fortwährend unterbrochen von den Ruhepausen des Schlafes"11 Das hat ein Ende. Seine Träume sind nicht länger "verworren und willkürlich. Nun fangen sie an, einen regelmässigen Charakter anzunehmen. Ihre Bilder werden sinnvoll zusammenhängend wie die Vorstellungen des Alltagslebens."12

Der Hellseher wird Zugang zu Wissen erlangen, das dem Uneingeweihten nicht zugänglich ist. Zum Beispiel wird er die Begrenzungen der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung hinter sich lassen und "die verflossenen Vorgänge in ihrem ewigen Charakter"13 erfahren können. Insbesondere wird er die sogenannte Akasha-Chronik lesen können. Sie ist nicht eine Chronik im gewöhnlichen Sinn, also ein historischer Text. Stattdessen besteht sie aus den übersinnlichen Spuren vergangener Ereignisse.

"Die in das Lesen solcher lebenden Schrift eingeweiht sind, können in eine Weit fernere Vergangenheit zurückblicken als diejenige, welche die äussere Geschichte darstellt; und sie können auch - aus unmittelbarer geistiger Wahrnehmung - die Dinge, von denen die Geschichte berichtet, in einer weit zuverlässigeren Weise schildern, als es dieser möglich ist."14

Steiner las die Akasha-Chronik häufig. Beachtliche Teile seiner umfangreichen Schriften bestehen aus erschöpfenden Nacherzählungen historischer Ereignisse. Er berichtete Details aus Atlantis und anderen verlorenen Zivilisationen. Er korrigierte die christlichen Evangelien, enthüllte die Geheimnisse alter ägyptischer Priester, usw. All das hatte er aus der Akasha-Chronik.

Steiner lehrte auch über viele anderen Wissensgebiete, so zum Beispiel über die Landwirtschaft, die Medizin, die Pädagogik. Seine Wissensquelle war immer dieselbe: Seine eigenen hellseherischen Visionen.

Zwei Möglichkeiten zur Kritik an Steiners Wissenskonzept liegen nahe: 1) erfüllt es das Kriterium der Intersubjektivität nicht, und 2) widersprechen seine Ergebnisse der herkömmlichen Wissenschaft. Steiner war sich dieser Argumente wohl bewußt. Er behauptete ja nachdrücklich, daß seine Methode sowohl das Kriterium der Intersubjektivität erfülle als auch daß ihre Ergebnisse von der herkömmlichen Wissenschaft bestätigbar seien. Das macht es möglich, sein Wissenskonzept anhand zweier Kriterien zu überprüfen, die sowohl von ihm als auch von normalen Wissenschaftlern akzeptiert werden. Betrachten wir zunächst die Frage der Intersubjektivität.


2. Intersubjektivität

Steiner zufolge kommen wahre Hellseher immer zu denselben Ergebnissen. "So gewiss zwei richtig sehende Menschen einen runden Tisch rund sehen, und nicht einer rund und der andere viereckig, so gewiss stellt sich vor zwei Seelen beim Anblicke einer blühenden Blume dieselbe geistige Gestalt."15 Diese Art der Intersubjektivität ist sogar größer als die der empirischen Wissenschaft:

"Und was verschiedene Eingeweihte über Geschichte und Vorgeschichte mitteilen können, wird im wesentlichen in Übereinstimmung sein. Tatsächlich gibt es solche Geschichte und Vorgeschichte in allen Geheimschulen. Und hier herrscht seit Jahrtausenden so volle Übereinstimmung, dass sich damit die Übereinstimmung, die zwischen den äusseren Geschichtsschreibern auch nur eines Jahrhunderts besteht, gar nicht vergleichen lässt. Die Eingeweihten schildern zu allen Zeiten und allen Orten im wesentlichen das Gleiche."16

Diese Sicht der Dinge mag etwas überraschen, wenn man sich die große Bandbreite okkulter Lehren ansieht, die um unsere Seelen konkurrieren. Und natürlich konnte Steiner nicht leugnen, daß einander widersprechende Lehren als wahres, okkultes Wissen verbreitet werden. Aber das beruhte allein auf den Fehlern, die manche Adepten der Hellseherei gemacht hatten. Wahres okkultes Wissen war für jeden dasselbe, der in der Lage war, es zu erlangen. "Die Verschiedenheit ist nur so lange vorhanden, als sich die Menschen nicht auf einem wissenschaftlich gesicherten Wege, sondern auf dem der persönlichen Willkür den höchsten Wahrheiten nähern wollen."17

Um festzustellen, ob anthroposophisches Wissen intersubjektiv ist, ist es nicht ausreichend zu behaupten, daß einige Visionen wahr sind und andere nicht. Es müßte ein Methode beigebracht werden, die den Wahrheitswert einer konkreten Vision bestimmen kann. Wenn eine solche Methode dargelegt werden könnte, wäre Intersubjektivität bewiesen.

Steiner stellte in der Tat eine solche Methode vor. Um Fehler zu vermeiden und der Authentizität seiner Visionen sicher zu sein, sollte der angehende Hellseher Rat von einem Lehrer annehmen. "[M]an lässt sich durch einen Lehrer diejenigen Dinge überliefern, welche durch inspirierte Vorgänger für die Menschheit errungen worden sind."18 In einer sehr erhellenden Passage sagte er:

"Wer, ohne auf bestimmte Tatsachen der übersinnlichen Welt den Seelenblick zu richten, nur "Übungen" macht, um in die übersinnliche Welt einzutreten, für den bleibt diese Welt ein unbestimmtes, sich verwirrendes Chaos. Man lernt sich einleben in diese Welt gewissermassen naiv, indem man sich über bestimmte Tatsachen derselben unterrichtet, und dann gibt man sich Rechenschaft, wie man - die Naivität verlassend - vollbewusst selbst zu den Erlebnissen gelangt, von denen man Mitteilung erlangt hat."19

In anderen Worten: Der Adept der anthroposophischen Wissenschaft muß seine Visionen mit denen seines Lehrers und seiner "inspirierten Vorgänger" vergleichen. Seine eigenen Visionen sind nur wahr, wenn sie mit denen seiner Vorgänger übereinstimmen. Solche Vergleiche sind in der Tat ein notwendiger Teil des anthroposophischen Weges zum Wissen. Steiner sagte, daß "die sichere Führung durch den erfahrenen Geheimlehrer doch noch nicht völlig zu ersetzen ist".20

Man kann sagen, daß dieses Verfahren Intersubjektivität verbürgt. Nehmen wir an, daß jeder Anhänger des anthroposophischen Wissenskonzepts die Authentizität seiner Visionen an der Übereinstimmung mit denen eines Vorläufers bemißt. Nehmen wir weiterhin an, daß sie sich alle denselben Vorläufer zum Maßstab nehmen. Dann ist ihre Methode unleugbar intersubjektiv.

Jedoch verursacht diese spezielle Form mindestens zwei weitere wissenschaftstheoretische Probleme:

(1) Es gibt verschiedene okkulte Vorläufer mit unterschiedlichen Lehren. Wie finden wir auf intersubjektive Weise die authentischen heraus?

(2) Wenn Führung durch einen Lehrer notwendig ist, wo hat der erste okkulte Lehrer sein Wissen her?

Steiner hat sich scheinbar keine Mühe gemacht, auch nur eines dieser beiden Probleme zu lösen. Ohne eine Lösung beider Probleme besteht Steiners Intersubjektivität in der Unterordnung unter eine Autorität, deren überlegener Zugriff auf das begehrte Wissen nur behauptet wird. Das ist in der Tat Intersubjektivität, aber es ist eine autoritäre From von Intersubjektivität.

Dazu kommt ein weiteres Problem in der anthroposophischen Praxis. Seit Steiners Tod im Jahre 1925 hat niemand auch nur annähernd seine hellseherischen Fähigkeiten erlangt. Beispielsweise hat es trotz entschlossener Anstrengungen tausender Anthroposophen scheinbar niemand geschafft, die Akasha-Chronik zu lesen.

Man könnte denken, daß die Anthroposophie, wie sie heute praktiziert wird, hauptsächlich auf den hellseherischen Visionen ihrer aktuellen Anhänger fußt (d.h. Visionen, deren Authentizität durch Übereinstimmung mit den Lehren Steiners verbürgt ist). In der Praxis beruht jedoch nur ein sehr geringer Teil dessen, was Anthroposophen glauben, auf diesen Visionen. Ganz im Gegenteil sind Steiners Bücher und seine stenographisch mitgeschriebenen Vorträge die dominierende Quelle der anthroposophischen Lehre.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß dies der Steinerschen Methodenlehre widerspricht. Wenn man die eigenen Visionen nur dann akzeptiert, wenn sie sich in Übereinstimmung mit den Lehren eines "Vorgängers" befinden, dann kann nichts natürlicher sein, als diese Lehren auch dann zu akzeptieren, wenn man gar keine Visionen gehabt hat. In der Tat ist das genau das, was Steiner all denjenigen riet "welche den Pfad in die übersinnliche Welt nicht beschreiten können und wollen".21

Hier findet sich eine offensichtliche Parallele zwischen dieser Abkürzung zum Wissen nach anthroposophischer Art und dem herkömmlichen Lernen in Schulen und Universitäten. Wir lernen die Grundgesetze der Mechanik nicht, indem wir Galileis Expermimente oder die Beobachtungen Tycho Brahes in jeder Einzelheit nachvollziehen. Wir tauchen in die altägyptische Geschichte ein, ohne den Versuch unternommen zu haben, ägyptische Hieroglyphen zu entziffern, etc. Wir lernen von "Vorgängern", deren Ergebnisse in Lehrbüchern zusammengefaßt werden.

Aber trotz dieser Ähnlichkeit gibt es mindestens zwei wichtige Unterschiede. Einer von ihnen betrifft die Haltung zum kritischen Denken. In der Praxis der herkömmlichen Wissenschaft soll der Lernende idealerweise zum kritischen Denken ermutigt werden. In der Anthroposophie wird er idealerweise bei der Unterdrückung des kritischen Denkens unterstützt. Das gilt nicht nur für den Bereich der Hellsicht, sondern auch für die sekundären Arten der okkulten Wissenserlangung:

"Erhält man also solche Wahrheiten mitgeteilt, dann erregen sie in der Seele durch ihre eigene Kraft die Inspiration. Man muss nur versuchen, wenn man solcher Inspiration teilhaftig werden will, diese Erkenntnisse nicht nüchtern und verstandesmässig zu empfangen, sondern sich von dem Hochschwung der Ideen in alle nur möglichen Gefühlserlebnisse versetzen lassen."22

Der andere wichtige Unterschied betrifft den Zugriff auf die Lehrinhalte. In den herkömmlichen Wissenschaften wird von den Lehrenden erwartet, daß sie die Lernenden dazu ermutigen, soviel in Erfahrung zu bringen, wie sie nur irgend können, sogar über die fortgeschrittensten Bereiche der jeweiligen Wissenschaft. Es wird nicht als gefährlich angesehen, wenn der Physiker im Anfängerstadium sich mit Quantenchromodynamik befaßt, oder wenn der Linguistikstudent sich mit einigen halbentzifferten altertümlichen Hieroglyphen abgibt.

In der Anthroposophie jedoch gibt es strenge Grenzen für das Ausmaß des Wissens, das Nichteingeweihten zugänglich ist. Die physischen Sinne des Schülers selbst verbergen vor ihm "Dinge, welche ihn, unvorbereitet, in masslose Bestürzung versetzen müssten, deren Anblick er nicht ertragen könnte. Diesem Anblick muss der Geheimschüler gewachsen werden."23 Es ist "ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihte", daß sie niemandem Wissen zugänglich machen, für das er nicht vorbereitet ist.24

"Du magst ihm schmeicheln, du magst ihn foltern: nichts kann ihn bestimmen, dir irgend etwas zu verraten, von dem er weiss, dass es dir nicht verraten werden darf, weil du auf der Stufe deiner Entwicklung dem Geheimnis noch nicht den rechten Empfang in deiner Seele zu bereiten verstehst."25


3. Nachprüfbare Voraussagen

Steiner zufolge gibt es keine Widersprüche zwischen der Anthroposophie und der herkömmlichen Wissenschaft.

"Mit der naturwissenschaftlichen Tatsachenforschung stehen die Ergebnisse der Geisteswissenschaft nirgends in Widerspruch. Überall, wo man unbefangen auf das Verhältnis der beiden hinsieht, zeigt sich vielmehr für unsere Zeit etwas ganz anderes. Es stellt sich heraus, dass diese Tatsachenforschung hinsteuert zu dem Ziele, das sie in gar nicht zu ferner Zeit in volle Harmonie bringen wird mit dem, was die Geistesforschung aus ihren übersinnlichen Quellen für gewisse Gebiete feststellen muss."26

Mit anderen Worten, die herkömmliche Wissenschaft zielt darauf ab, Schritt für Schritt wiederzuentdecken, was der Geisteswissenschaft schon lange bekannt ist.

Steiner akzeptierte die empirische Wissenschaft nicht als Maßstab für die Anthroposophie. Seine Vorraussage von der bevorstehenden Konvergenz der herkömmlichen Wissenschaft mit der Anthroposophie weist ihm jedoch eine Position zu, in der seine Behauptungen mit den Ergebnissen der herkömmlichen Wissenschaft verglichen werden können. Sollte sich herausstellen, daß sich die Naturwissenschaften in den 66 Jahren seit seinem Tod auf die Anthroposophie zubewegt haben, würde das sein Wissenskonzept nachhaltig stützen. Wenn sich jedoch die Naturwissenschaft noch weiter von der Anthroposophie entfernt hätte, dann folgte mit Gewißheit, daß Steiners Geheimwissen nicht unfehlbar war.

Es sollte betont werden, daß Steiners Voraussage über die Zukunft der Naturwissenschaft einem Vergleich mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft mehr Substanz verleiht als bei anderen spirituellen Lehren. Viele Okkultisten haben sich einem Vergleich mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft entzogen, indem sie behaupteten von einer Realität zu sprechen, die mit der physischen Realität nichts gemein hat.

Im folgenden werde ich drei Beispiele betrachten, die aus Steiners Schriften selbst stammen. Beispiel 1 und 2 sind ausgesucht worden, weil sie grundlegende Themen der Naturwissenschaft betreffen. Beispiel 3 wurde gewählt, weil es eine unüblich präzise Voraussage enthält.

Das erste Beispiel betrifft die Struktur der Atome. 1917 behauptete Steiner:

"Die Stoffler - so nennen wir sie einfach - stellen sich vor, die Welt bestände aus Atomen. Was zeigt uns Geisteswissenschaft? Gewiss, die Naturerscheinungen führen uns auf solche Atome zurück, aber was sind sie, diese Atome? ... Nach den Stofflern ist der Raum leer, und da drinnen, da wackeln die Atome herum. Also sie sind das allerfesteste. Aber so ist es nicht, das ganze beruht auf Täuschung. Die Atome sind nämlich Blasen vor der imaginativen Erkenntnis, und da, wo der leere Raum ist, da ist die Wirklichkeit; und die Atome bestehen gerade darin, dass sie zu Blasen aufgeblasen sind. Blasen sind das. Da ist gerade nichts, gegenüber ihrer Umgebung. Wissen Sie, wie in einer Selterswasserflasche die Perlen; es ist nichts im Wasser, wo die Perlen sind, aber man sieht dort die Perlen. So sind die Atome Blasen. Da ist der Raum hohl, da ist nichts drinnen."27

Nach Steiners Voraussage über die Beziehung zwischen der Anthroposophie und den Naturwissenschaften hätten sich die Naturwissenschaften seit 1917 wenigstens ein kleines Stück auf ein Atommodell zubewegen müssen, nach denen die Atome "absolut nichts" enthalten. Die Kernphysik ist jedoch in die genau entgegengesetzte Richtung gegangen. Vom Standpunkt der Naturwissenschaften ist es, gelinde gesagt, wohlbelegt, daß die Atome keine leeren Blasen sind.

Mein zweites Beispiel betrifft die spezielle Relativitätstheorie. Steiner widmete einen Abschnitt des besagten Vortrags der speziellen Relativitätstheorie. Dieser Abschnitt lautet:

"Denn all der glänzende Unsinn, den man heute z.B. als Realphilosophie verzapft, durch welchen Einstein ein grosser Mann geworden ist, der wird nur zurückgewiesen werden können, wenn man über diese Dinge klare Begriffe haben wird, die den Wirklichkeiten entsprechen. Wissen Sie, die Relativitätstheorie ist ja so einleuchtend. Nicht wahr, man braucht sich nur vorzustellen, dass - nun ja, wenn in einer Entfernung eine Kanone losgeschossen ist, so hört man es erst nach einer bestimmten Zeit. Nun, nehmen wir aber an, wir bewegen uns zur Kanone hin, nicht wahr, so hört man sie früher, weil man ja näher kommt. Nun schliesst der Relativitätstheoretiker: wenn man nun eben so schnell sich bewegt, wie der Schall geht, dann, dann geht man mit dem Schall, dann hört man ihn nicht. Und geht man gar schneller als der Schall, dann hört man etwas, was später abgeschossen wird, früher als das, was früher abgeschossen worden ist. Das ist ja heute eine allgemein angenommene Vorstellung, nur just steht sie nicht im geringsten Verhältnis zur Wirklichkeit. Denn wenn man sich ebenso schnell bewegt, wie der Schall, so kann man selber ein Schall sein, aber man kann keinen Schall hören. Diese ganzen ungesunden Vorstellungen leben aber heute als Relativitätstheorie und geniessen das allergrösste Ansehen."28

Nach Steiners Voraussage über die Beziehung zwischen der Anthroposophie und den Naturwissenschaften wäre zu erwarten, daß die spezielle Relativitätstheorie eine schwächere Position in der Naturwissenschaft hat als 1917. Das ist jedoch nicht der Fall. Ganz im Gegenteil hat sie durch wiederholte empirische Bestätigungen an wissenschaftlichem Gewicht gewonnen.

Zufälligerweise hat Steiners Aussage über die Relativitätstheorie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Kenntnissen eines Menschen, dessen Vertrautheit mit der Relativitätstheorie sich auf die Lektüre (und das falsche Verständnis) eines populärwissenschaftlichen Textes bezieht, in dem der Dopplereffekt in Bezug auf das Licht durch einen Vergleich mit Schallwellen erklärt wird.

Steiners Behauptung, daß jemand der sich schallschnell bewegt "keinen Laut hören kann" muß in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. Als er das sagte, wußten Wissenschaftler, daß es nicht richtig war, wohingegen das allgemeine Publikum davon überhaupt nicht sehr viel wußte. Heute, im Zeitalter des Überschallfluges, wird beinahe jeder diese Aussage für falsch halten. Es ist erstaunlich, daß jemand eine Aussage wie diese traf, der doch die Zukunft der Naturwissenschaften vorauszusehen in der Lage war.

Mein drittes und letztes Beispiel betrifft die Therapie der Syphilis. Steiner glaubte fest an den therapeutischen Nutzen der sogenannten Planetenmetalle, Blei und Quecksilber eingeschlossen. Er traf eine sehr genaue Voraussage über den zukünftigen Nutzen des Quecksilbers in der Syphilistherapie:

"Und in Bezug auf eben diese Wirkung des Quecksilbers bei syphilitischen Erkrankungen muss man ja erwähnen, dass in der neueren Zeit vieles an die Stelle von Quecksilber gesetzt worden ist. Die berühmten neueren Mittel, die an die Stelle gesetzt worden sind, nicht wahr, sind aber schon heute durchaus erkannt in ihrer nicht ganz einwandfreien Wirksamkeit, und sehr bald wird die Medizin auch auf diesem Gebiete durchaus wiederum zu den Quecksilberkuren zurückgegangen sein."29

Beinahe siebzig Jahre später gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, daß sich die Medizin in der Syphilistherapie dem Quecksilber wieder zugewandt hat.

Die Liste der falschen Voraussagen ließe sich bis zum Überdruß verlängern. Aus einer Lektüre von Steiners eigenen Schriften geht klar hervor, daß er mit der Behauptung nicht recht hat, die Naturwissenschaften würden sich dahingehend entwickeln, mehr und mehr seiner Lehren zu bestätigen.

Man kann natürlich behaupten, daß durch Steiners Methode verläßliches Wissen gewonnen werden kann, obwohl sie bei ihm oft versagte. Jedoch verleiht dies einem der Probleme aus Abschnitt 2 noch mehr Gewicht. Wenn ich nur weiß, daß meine Visionen korrekt sind, nachdem ich sie mit den Ergebnissen von jemand verglichen habe, der korrekte Visionen hat, und wenn gleichzeitig Steiners Visionen manchmal fehlerhaft sind, wie finde ich dann einen "Vorläufer", dessen Visionen ich trauen kann?

Ich sehe nur einen möglichen Ausweg für den gläubigen Anthroposophen. Dieser Ausweg besteht darin, Steiners Warnungen vor einer kritischen Haltung gegenüber dem Okkultismus (d.h. gegenüber Steiners Lehren) ernst zu nehmen. Wenn manche von Steiners Aussagen falsch oder widersprüchlich erscheinen, dann ist das nur deswegen so, weil wir sie nicht richtig verstehen. Wo liegt das Problem?

Das Problem liegt darin, daß die Anthroposophie so gut wie nichts mit der Wissenschaft gemein hat.


4. Epilog

Es ist klar, daß aus der nichtwissenschaftlichen Natur der Anthroposophie nicht hervorgeht, daß sie völlig nutzlos ist. In diesem Schlußabschnitt sollen ein paar Dinge über die Gebiete gesagt werden, auf denen Anthroposophie nützlich sein könnte. Die Anthroposophie schließt praktische Methoden und Glaubensgrundsätze ein, und ihre positiven Beiträge sollten in diesen beiden Bereichen gesucht werden.

Die "biodynamische" Landwirtschaft mag ein Beispiel für eine bekannte Methode der anthroposophischen Praxis sein. Die zwei Hauptunterschiede zwischen biodynamischer und herkömmlicher Landwirtschaft sind a) die Abwesenheit von Kunstdüngern und Pestiziden und b) die Anwesenheit verschiedener magischer Praktiken, so z.B. das Säen und Ernten nach astrologischen Kalendern, das Verstreuen von verbranntem Wühlmausfell zu Vermeidung weiteren Wühlmausbefalls etc. Es gibt nicht den geringsten Grund für die Annahme, daß diese magischen Praktiken der herkömmlichen Landwirtschaft überlegen sind. Tatsächlich wird ein Bauer, der nach der Astrologie erntet anstatt nach der Fruchtreife und dem Wetter, ein weniger erfolgreicher Bauer sein. Andererseits hat die Reduzierung oder die Abschaffung von Kunstdüngern und Pestiziden klare ökologische Vorteile. Auch außerhalb der biodynamischen Bewegung finden diese Veränderungsvorschläge viele Anhänger. Die positiven Aspekte der anthroposophischen Landwirtschaft werden durchsetzungsfähiger sein, wenn sie vom Rest der biodynamischen Lehre getrennt werden.

Dasselbe kann von anderen positiven Bestandteilen gesagt werden, die in weiteren Bereichen der Anthroposophie gefunden werden können, so z.B. in der anthroposophischen Medizin und in der Waldorfpädagogik. Wenn sich positive Bestandteile in der anthroposophischen Praxis finden, kann aus ihnen Nutzen gezogen werden, ohne daß die Anthroposophie als ganzes akzeptiert wird. (Zufälligerweise weiß ich nicht von einem einzigen solchen Bestandteil der anthroposophischen Lehre, der nur von ihr vertreten würde). In anderen Worten: Ein Nicht-Anthroposoph, der nützliche Anteile an der Anthroposophie ausmacht, braucht weder die Lehren noch die Organisation der Anthroposophie, um aus diesen Anteilen auch wirklich Nutzen zu ziehen.

In welcher Hinsicht, so meine letzte Frage, können die Glaubensgrundsätze der Anthroposophie von einem grundsätzlich positiven Wert sein? Wie aus dem Obigen hervorgegangen sein sollte, sind diese Glaubensgrundsätze weniger nützlich als die Wissenschaft - oder der wissenschaftlich orientierte gesunde Menschenverstand - um mit der empirischen Realität fertig zu werden. Was dann noch bleibt, sind im Kern die Funktionen, die üblicherweise die Religion für sich in Anspruch nimmt: Trost zu spenden, Sinn zu geben, die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zu wecken, der Moral ein Fundament zu schaffen.

Es ist dies nicht der Ort, um über die Vor- und Nachteile der Religion zu debattieren. Es soll nur zugegeben werden, daß die Anthroposophie nicht schlechter als die großen traditionellen Religionen ausgerüstet ist, um "religiöse Bedürfnisse" zu erfüllen. Jedoch würde eine Verteidigung der Anthroposophie nach diesem Strickmuster ihren eigenen Lehren widersprechen, denn die Bewegung lehnt es ab, sich als eine Religion bezeichnen zu lassen.


Bemerkung zu den Quellen und zur Übersetzung

[1] Dieser Text wurde aus dem Englischen übersetzt. In den folgenden Fußnoten werden aber die deutschen Originalquellen belegt.

Die Abkürzungen in den Quellenangaben beziehen sich auf folgende Werke:

Akasha: Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, Dornach, ohne Datum.
Geheimw: Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, Leipzig 1920.
Stufen: Rudolf Steiner, Die Stufen der höheren Erkenntnis, Dornach 1931.
Wie erlangt: Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Berlin 1918.


[2] "Göttliche Wissenschaft" belegt in: Wie erlangt, S. 25

[3] Geheimw, S. 4

[4] Wie erlangt, S. 61

[5] Wie erlangt, S. 4f.

[6] Wie erlangt, S. 6

[7] Wie erlangt, S. 47 ff.

[8] Wie erlangt, S. 32f.

[9] Rudolf Steiner, Meditation und Konzentration. Die drei Arten des Hellsehens, Dornach 1935, S. 33

[10] Geheimw, S. 10

[11] Wie erlangt, S. 159

[12] Wie erlangt, S. 148

[13] Akasha, S. 2f.

[14] Akasha, S. 3

[15] Wie erlangt, S. 32

[16] Akasha, S. 3

[17] Geheimw, S. 14ff.

[18] Stufen, S. 65

[19] Geheimw, S. 21

[20] Stufen, S. 69

[21] Wie erlangt, S. X

[22] Stufen, S. 66

[23] Wie erlangt, S. 58

[24] Wie erlangt, S. 3

[25] Wie erlangt, S. 3f.

[26] Akasha, S. 227

[27] Rudolf Steiner, Das Karma des Materialismus, Berliner Vorträge, gehalten im August und September 1917, Berlin 1922, Vortrag 2, S. 14-15f.

[28] Ibid., S. 2:16

[29] Rudolf Steiner, Über Gesundheit und Krankheit, Vorträge 1922 and 1923, zit. nach Franz Stratmann, Zum Einfluss der Anthroposophie in der Medizin, München 1988, S. 39