Das Sperrgebiet

(Leseprobe zu "Yardang", Roman v. Marcus Hammerschmitt)


Die Schwärze des Alls machte ihn immer noch fertig. Er war auf Yttrium geboren und hatte nie einen Himmel von anderer Farbe gesehen, aber wann immer die schiere Dunkelheit des Weltraums auf ihn wirkte, wann immer sie ihn einzusaugen, aus der Sicherheit Yttriums oder seines Springers herauszulocken schien, nahm sie ihm den Atem. Und auch jetzt wieder, während er Kurs auf das Sperrgebiet nahm, standen für ein paar Sekunden all seine Nackenhaare aufrecht, als über dem gleißenden Rand der Raumstation das dunkle Nichts aufging. Sterne sah er keine, die viel zu helle Raumstation machte sie für seine Augen zunächst unsichtbar.

Sylvain riss sich zusammen. Er war nicht auf einer Ausflugstour und er gehörte auch nicht zu den Sektenspinnern von der „Großen Einheit“, die sich manchmal nur im Raumanzug aus der Station herauswagten, um nie mehr zurückzukehren. Sylvain war dabei, etwas Verbotenes zu tun. Und wenn er eines durch seine verbotenen Unternehmungen bisher gelernt hatte, dann dies: Gesetze zu brechen erforderte Konzentration. Er hatte bisher schon einige gebrochen. Hauptsächlich solche, die mit der Benutzung seines Computers und des Stationsnetzwerks zu tun hatten. Aber an das Sperrgebiet hatte er sich bis jetzt nicht heranhacken können. Das machte ihn sauer. Weil er nicht an die Daten herankam, die ihm etwas über dieses Sperrgebiet hätten erzählen können, musste er wohl selbst nachsehen, was es damit auf sich hatte. Der Geruch von seinem eigenen Schweiß erfüllte die Kabine des Springers. Auf dem Bildschirm, der zeigte, was die Heckkameras sahen, rollte eine riesige gelbe Scheibe unter Yttrium hinweg: Yardang, der gelbe Planet, die Pestbeule. Seine Abstandssensoren schlugen Alarm. Er war der Station zu nahe gekommen. Der Navistent bat ihn dringend darum, die Steuerung wieder übernehmen zu dürfen. Sylvain lehnte ab. Der Navistent würde ihn nie zum Sperrgebiet fliegen, das musste er schon allein tun. Konzentration! Wenn er in die Station krachte, konnte ihm niemand mehr helfen. Dann würde er schnell die große Einheit erleben, ohne ein Sektenspinner zu sein.

Eigentlich war der Plan ganz einfach. Er wollte mit seinem Springer so nah wie möglich an das Sperrgebiet herankommen, das seit über drei Jahren für alle gewöhnlichen Bewohner von Yttrium absolut tabu war. Genauso lange schon war Sylvains Vater extrem einsilbig, was seine tägliche Arbeit anging, und Sylvain war zu der Überzeugung gelangt, dass sein Vater in dem Sperrgebiet irgendwelchen geheimen Tätigkeiten nachging. Der Gedanke an seinen Vater verschlechterte Sylvains Laune rapide, aber nur dann besann er sich wieder darauf, Kurs zu halten. Um nicht sofort von einer Außenstreife der Stationssicherheit überprüft und abgefangen zu werden, hatte sich Sylvain eine einfache, aber wirksame Tarnmaßnahme ausgedacht: Er hatte sich in das Netzwerk von Neon eingeschlichen, der Raumstation, die Yttrium derzeit am nächsten war, und er hatte die Daten eines Vertreters der Regierung von Neon in seinen Besitz gebracht. Auf diese Weise konnte er jetzt so tun, als sei er für Neon in diplomatischer Mission unterwegs. Kurz vor Erreichen der kritischen Zone wollte er ein wenig hin und her fliegen, um den Verwirrten zu spielen, und so zu tun, als sei er vom Kurs abgekommen. Ein Ablenkungsmanöver, das ihm im entscheidenden Moment vielleicht ein paar Sekunden Bewegungsfreiheit ermöglichte. Der gleißend helle Rand der Raumstation kam näher. Das Licht, das von der Außenhaut, den Antennen und Vorsprüngen reflektiert wurde, verdichtete sich ganz oben, dort, wo sonst abrupt das schwarze All eingesetzt hätte, zu einer schmalen Aura, die Sylvains Augen blendete. Nur noch zwei Klicks. Nur noch anderthalb. Er begann, ein wenig hin und her zu fliegen. Alles, was er brauchte, waren ein paar Sekunden über Upside, der Oberseite der „Konservendose“, wie Yttrium von seinen Bewohnern auch genannt wurde. Ein paar Sekunden reichten für mehrere Tausend gestochen scharfer Bilder, und aus diesen Bildern, so wusste Sylvain, ließen sich alle möglichen Informationen über das Sperrgebiet herauslesen. Noch knappe tausend Meter.

Plötzlich ging ein Alarm los, ein gelbes Leuchtfeld auf seinen Armaturen begann zu pulsieren. Irritiert überprüfte Sylvain die Anzeige und konnte zuerst nicht glauben, was er sah: Seinem Springer ging der Sprit aus. Bei all der Genialität seines einfachen Plans hatte er vergessen, vollzutanken. Ein absoluter Anfängerfehler. Lähmende Enttäuschung senkte sich auf ihn nieder. Noch während er das pulsierende gelbe Leuchtfeld betrachtete, sprang die Farbe auf Rot um. „Fahrzeughalter“, sagte eine billige elektronische Stimme, „die Treibstoffvorräte sind nahezu aufgebraucht.“ „Ich weiß!“, sagte Sylvain zornig. „Dringende Empfehlung zur Rückkehr“, entgegnete die Stimme. „Unmittelbare Gefahr der Manövrierunfähigkeit.“ Sylvain atmete durch und gab sich geschlagen. Er nahm die Hände von der Steuerung und trat die Kontrolle damit automatisch an den Navistenten ab. „Okay“, sagte Sylvain. „Flieg mich nach Hause.“ Er wollte vernünftig sein. Wenn er jetzt noch einen Fehler machte, dann konnte er sich von der Stationssicherheit retten lassen, und das würde mehr als peinlich werden.
Der Navistent, dachte Sylvain bitter, ist vielleicht auch einfach der bessere Pilot. Als der Springer schließlich wendete, war er nur noch knapp fünfzig Meter vom Rand der Station entfernt. Knapp daneben ist auch vorbei, dachte Sylvain.

(...)

© Marcus Hammerschmitt, 2010