Eintauchen

(Leseprobe aus Azureus & Pygmalion, Roman von Marcus Hammerschmitt)

Die Welt ist ein Dorf


"He, du."

Die Stimme war tief und warm. Eine Stimme, der man vertrauen konnte. Azureus drehte sich trotzdem nicht um und lief einfach weiter. Den Schirm in seinem Rücken zog er nur aus Prinzip hoch.  Er würde ihm nicht gegen seinen Verfolger schützen. Azureus hörte keine Schritte hinter sich, genau wie er es erwartet hatte.

"Brauchste nich", sagte die vertrauenswürdige Stimme , "Bin dein Freund."

Azureus biss sich auf die Zunge. Beinahe hätte er widersprochen. Was war bloß mit ihm los? Erst hatte er bei einem einfachen Routine-Rundgang durch das Dorf  elementare Vorsichtsmaßnahmen missachtet, und nun ließ er sich auf so billige Weise provozieren.

Der Mond stand hell über dem Dorf. Hier in den Außenbezirken war alles ruhig, die meisten Gäste schliefen schon. In einer Viertelstunde würde seine Schicht zu Ende sein. Aber jetzt hatte er ein Problem. Azureus bog in die Mauerstraße, eine der wenigen ungemütlichen Gassen dieses Bezirks. Eng war sie, dunkel, und so gut wie nicht beleuchtet. Typisches Niemandsland zwischen zwei Domänen, wie es dorfplanerisch eigentlich gar nicht vorkommen sollte, aber doch  immer wieder selbst in den besten Gegenden auftrat. Vielleicht ließ sich sein Verfolger hier abschütteln. Er mochte Niemandsland nicht, so viel wusste Azureus.

"Hier würd ich aber nich langlaufen", sagte die Stimme. "Miese Gegend hier."

"Du mich auch", dachte Azureus, und lief weiter. "Hoffentlich gefällt sie dir so wenig, dass du mich in Ruhe lässt."

Unabsichtlich kickte er eine leere Konservenbüchse  zur Seite. Nur, um sich abzulenken, wechselte  er in den Strukturmodus und prüfte ihre Signaturen. Das rostige Blech hatte seit drei Jahren hier gelegen. Wirklich eine miese Gegend. Was sollte er bloß tun? Der Verfolger blieb ihm auf den Fersen, das konnte er genau spüren. Manchmal hörte er ihn schnaufen, wie ein großes Tier, das leicht außer Atem war. Wie hatte er nur so unachtsam sein können?

Plötzlich merkte er, dass er sich in einer Sackgasse befand. Und das Ende der Sackgasse wurde nicht von einer einfachen Backsteinmauer begrenzt. Die Mauer erwies sich als ein echter Flussblock. Eines der Bewegungshindernisse im Dorf, die auf Regelniveau die Bewegungen der Dorfbewohner begrenzten. Sicher, Azureus hätte seine Adminprivilegien bemühen können, um die Mauer zu überwinden. Aber erstens hätte das seinem Verfolger eine Menge über ihn verraten, zweitens kostete es Zeit, die er nicht hatte, drittens zog die Benutzung von APs immer eine Untersuchung durchVorgesetzte nach sich. Manchmal auf PE-Basis. Persönliches Erscheinen. Azureus hielt an. Das war nicht sein Tag. So viel war schon mal klar.

Er drehte sich um. Der Troll stand wenige Meter von ihm entfernt. Er war vielleicht anderthalb mal so groß wie ein ausgewachsener Mann, und, wie bei Trollen üblich, fast genauso breit. Sein dunkles Fell glänzte im Mondlicht. Der massive Kopf war gut zu erkennen. Er schien direkt auf den Schultern aufzusitzen. Handtellergroße Augen, eine platte, unbehaarte Nase, zwei Hörner, eins davon kürzer als das andere, und zwei gewaltige Hauer, die aus dem Maul herausragten. Der klassische Troll. Wenigstens stank er nicht, wie manche seiner Kumpels.

"Was willst du?", fragte Azureus. Er musste sich nicht einmal bemühen, extrem genervt zu klingen.

Der Troll hob eine Pranke und kratzte mit den langen Klauen seinen Trollschädel. Fragen nach den Gründen für ihre Handlungen, nach ihren Motiven und Strategien konnten Trolle schnell überfordern.

"Bin dein Freund", sagte der Troll stupide. "Heiß Pygmalion. Ich beschütz dich jetzt."

Das konnte ja heiter werden. Azureus hatte sich offenbar ein ganz besonders helles Exemplar der Gattung eingefangen.

"Hör mal, du dämlicher Fellsack. Ich brauch keinen Schutz, klar? Und jetzt verzieh dich, aber pronto."

Der Troll guckte unglücklich. "Gleich weint er", dachte Azureus.

"Geht nicht", sagte Pygmalion. "Bin dein Beschützer."

Da riss Azureus der Geduldsfaden. Er trat einen Schritt auf den Troll zu, und schrie:

"Ich brauche keinen Beschützer! Geht das in deinen Schädel, Fellsack? Verpiss dich!"

Der Troll, der sich während der Attacke von Azureus noch mehr zusammengeduckt hatte, schien etwas entgegnen zu wollen - dann aber sah Azureus seine Augen aufblitzen, der Trollkörper straffte sich, und viel schneller, als  er selbst hätte reagieren können, wurde er umgerannt. Azureus war total verblüfft. Trolle waren für viele unangenehme Eigenschaften bekannt, aber nicht für Aggression gegenüber den Leuten, die sie angeblich beschützen mussten. Aber noch im Fallen kehrte die Wut zurück. Und seine antrainierten Reflexe setzten ein. Er rollte geschickt ab, schnellte wieder hoch und zog seinen Haken aus dem Holster an seinem Gürtel. Das Gerät, das Ahnungslose vielleicht für einen Karabinerhaken gehalten hätten, öffnete sich und fing in Azureus Fingern blau zu glühen an. "Jetzt bist du zu weit gegangen, Arschloch. Jetzt mache ich aus dir Hackfleisch."

Der Troll stand gleich bei der Mauer, gebückt, intensiv mit einer Sache beschäftigt, die Azureus nicht sehen konnte. Zum Kampf bereit  und fest entschlossen,  den Haken in den Körper des Trolls zu schlagen, ging Azureus langsam auf seinen Gegner zu. Der Troll drehte sich um. In seinen dicken Pranken hielt er einen Fuchs. Azureus schreckte zurück.

"Wenn de keinen Beschützer brauchst, warum sind dann Füchse hinter dir her?"

"Wer sagt, dass der hinter mir her war?"

Der Troll hob den Fuchs langsam an, schob ihn in Azureus’ Richtung, wie zum Beweis. Das Tier wirkte leblos, aber sein intensiv rotes Fell schimmerte, als sei der Fuchs von innen beleuchtet. Seine kalten Augen waren geöffnet, und ein Zischen und Knistern ging von ihm aus, als sei Wasser auf eine heiße Herdplatte geraten. Wo der Troll den Fuchs umklammerte, stieg Dampf auf.

"Verdammt", knurrte Azureus. "verdammt." Sein Herz hämmerte. Ein echter Fuchs. Da hörte der Spass nun wirklich auf. Mit großer Vorsicht näherte er sich dem Zischen. Gerade, als er den Haken in den Schädel des Fuchses schlagen wollte, bäumte der sich noch einmal auf, bellte, und spuckte aus. Aber  der Troll hatte aufgepasst und dafür gesorgt, dass die Spucke weder ihn noch Azureus treffen konnte. Der Fuchsspeichel fiel zu Boden. Wo er auftraf, begann der Asphalt zu brennen. Azureus hatte endgültig genug, und schlug seinen Haken in den Schädel des bösen Geists. Der Fuchs zuckte, leuchtete hellrot auf, und zerfiel dann in den Pranken des Trolls zu Staub.

Azureus atmete schwer.

"Danke", sagte er zu dem Troll.

Der grinste wie ein Honigkuchenpferd.

"Ist doch mein Job", sagte er.

"Nein", erwiderte Azureus, während er den Haken wieder in sein Holster schob. "Ist es nicht."

Irgendwas war hier ziemlich komisch. Der Fuchs hätte eigentlich alle Alarmsysteme von Azureus zum Anschlagen bringen müssen. Füchse waren Klasse-A-Infowaffen. Gegen sowas führte ein Scout wie Azureus eine ganze Menge Defensiv- und Offensivoptionen mit sich herum, nicht nur den Haken. Aber ein Fuchs war bis auf fünf Meter an ihn herangekommen, ohne dass er es auch nur gemerkt hatte. Es gab dafür nur eine gute Erklärung: Der Fuchs hatte sich hinter  dem Flussblock versteckt – dem Flussblock, den man eigentlich nur mit Adminprivilegien überwinden konnte. Dort hatte er den Moment abgepasst, in dem Azureus mit seinem neuen Troll beschäftigt war, und nicht allzu genau auf seine Umgebung geachtet hatte. Sehr unangenehme Schlussfolgerungen drängten sich auf. Füchse arbeiteten nie selbstständig. Jemand war hinter ihm her. Aber halt - jetzt kam er schon zu den gleichen Einschätzungen wie der Troll . Und Pygmalion, der da immer noch vor ihm stand und immer noch breit grinste, war doch selbst einigermaßen seltsam. Er hatte eben einen Fuchs gefangen. Was Trolle normalerweise nicht konnten, weil sie zu dumm und zu langsam dazu waren. Mit zwei entschlossenen Schritten ging Azureus auf Pygmalion zu und griff ihm ins Fell. Durch den direkten Kontakt wurde ihm die Datenstruktur des Trolls viel feinkörniger aufgeschlüsselt, und was er da sah, verblüffte ihn schon auf den ersten Blick: Das war vollkommen aktuelle Software. Speicher, Intelligenzlevel, Zugangsberechtigungen: Pygmalion strotzte nur so vor Ressourcen, von denen normale Trolle nur träumen konnten. Und Azureus konnte nicht sagen warum, aber er hatte den bestimmten Eindruck, dass Pygmalion dies nicht wusste. Mit anderen Worten: Er hielt sich für einen gewöhnlichen Troll, war aber etwas anderes. Zumindest ein massives Troll-Upgrade, von dem Azureus bishernoch nichts gehört hatte. Er ließ das Fell los.

"Muss ich alles melden", murmelte er vor sich hin.

"Biste jetzt mein Freund?", fragte Pygmalion.

"Oh Mann", dachte Azureus und loggte sich aus.

(...)

© Marcus Hammerschmitt, 2011