Die Archive der Hölle
[Anmerkung: Dieser Text ist zuerst am 08.10.2003 im Online-Magazin Telepolis erschienen.]
Das Bundesarchiv hat ein online erreichbares Inventar aller Archive zur NS-"Euthanasie" erstellt
Wer glaubt, die Zeit des Nationalsozialismus sei mittlerweile bis in alle Ecken ausgeleuchtet, irrt sich in vielen Fällen überraschend gründlich. Jetzt ist eine der Lücken geschlossen worden - nach fast sechzig Jahren.
Die so genannte Euthanasie, also der planmäßige Mord an Behinderten, psychisch Kranken und "sozial Auffälligen" im Dritten Reich ist eines der großen Nebengebäude in der Architektur der Grausamkeit, die die Nazis errichteten. Etwa 200.000 Menschen fielen der Mordmaschinerie zum Opfer. Man vergaste die Kranken, tötete sie durch Giftinjektionen oder ließ sie einfach verhungern - 70.000 allein 1940-1941. Insgesamt waren 5.000-8.000 Kinder und Jugendliche unter den Opfern.
In gewisser Weise kann man sagen, dass die Nazis während der frühen Phase der Euthanasieprogramme die Techniken erprobten, die sie später bei ihrem zentralen Projekt, der Ausrottung der europäischen Juden, bis zur Perfektion entwickelten. Alles in diesem Schattenreich war mit deutscher Gründlichkeit geordnet - von den organisatorischen Strukturen über die Transportlogistik bis zur Kostenabrechnung, Opferbeseitigung und Versorgung der Angehörigen mit "Trostbriefen". Ein ineinander verzahnter Apparat aus Verwaltungsspezialisten, Ärzten und medizinischem Hilfspersonal setzte die Vorstellungen von der "Erbgesundheit des deutschen Volkes" mit tödlicher Präzision um. Und ein entscheidender Anstoß zu all dem, so gilt heute als sicher, war der Brief einer sächsischen Familie, die 1939 Hitler bat, ihren behinderten Sohn "einschläfern" zu lassen (das Kind wurde nachweislich am 25. 7. 39 getötet.)
Es gab keinen Entschluss zur "Endlösung der Behindertenfrage". Nur einen einfachen Brief, der die Elite auf die Ideen brachte, die sie eigentlich schon lange gehabt hatte und die Zeitstimmung gegen alles Andersartige, auch in der Nachbarschaft, auch in der eigenen Familie, zu ihrem klarsten Ausdruck kommen ließ - im Akt des Massenmords.
Die Tätigkeit der Mörder hinterließ so viele und so deutliche Spuren, dass selbst groß angelegte Aktenvernichtungsaktionen 1944/45 die Beweise nicht mehr beseitigen konnten. In fast allen mittelbar oder unmittelbar beteiligten "Heil- und Pflegeanstalten" existierten Akten zu den Vorgängen, die zum Teil durch den Vergleich mit Kirchenbüchern und Zeugenaussagen nach 1945 noch erhärtet werden konnten. Lange verloren geglaubte Akten zum ersten Abschnitt der Euthanasieverbrechen, der Aktion T4, tauchten nach dem Ende der DDR in Stasi-Archiven wieder auf. Vor allem engagierte Mediziner brachten seit den Siebzigern durch eigene Forschungsarbeiten die Vergangenheit einiger Institutionen an den Tag, die damals in die Euthanasiemorde verwickelt gewesen waren. Eigentlich eine ganz gute Quellenlage also. Warum es dann doch fast sechzig Jahre gebraucht hat, bis ein zentrales Inventar aller noch verfügbaren Datenbestände zum Thema erstellt wurde?
Die Gründe für die Verschleppung waren die üblichen: Gleichgültigkeit, Schlussstrich-Mentalität, personelle, politische und strukturelle Kontinuitäten, die nicht angetastet werden wollten. Trotz entsprechender Strafprozesse in der Nachkriegszeit (v.a. in West- und Ostdeutschland sowie Österreich) arbeitete der überwiegende Anteil der beteiligten Ärzte ohne jede Behelligung weiter als wäre nichts gewesen. Die sorgfältige Komposition der selektiven Amnesie funktionierte reibungslos. In den sechs großen Vernichtungsanstalten (Brandenburg, Hadamar, Grafeneck, Hartheim b. Linz, Sonnenheim/Pirna, Bernburg/Saale) wurden die Tötungseinrichtungen stillschweigend überbaut, zu den andernorts vorhandenen Akten wurde diese deutsch-österreichische Art der Omerta so fraglos befolgt, dass sie nach Kriegsende, in Abwesenheit entsprechender Befehle, nicht einmal beiseite geschafft wurden: Es interessierte sich ohnehin niemand dafür, sie waren wie nicht vorhanden.
Bis in die Siebziger, als die Fragen einer nachgewachsenen Medizinergeneration immer lauter wurden. Die baulichen Veränderungen an den Vernichtungsanstalten wurden teilweise wieder rückgängig gemacht, Gedenkstätten wurden eingerichtet, Studien erschienen, die Akten wurden plötzlich wieder sichtbar, und dadurch das Verbrechen, das sie belegten. Aber all die Detailarbeit führte nicht zu einer übergreifenden Anstrengung, das Material zu ordnen und verfügbar zu machen. Die ganze Kohl-Ära war an einem Gesamtbild der NS-"Euthanasie" nicht interessiert.
Erst jetzt hat das Bundesarchiv ein Inventar aller verfügbaren Archive erstellt, und auch gleich dafür gesorgt, dass es über das Internet zugänglich ist. Dabei erstreckt sich das Inventar nicht nur auf die deutschen und österreichischen Archive, sondern auch auf diejenigen in Polen und Tschechien, die noch greifbar sind.
Wenn man in die Suchmaschine den Begriff Irsee eingibt, erhält man drei Treffer. Im ehemaligen Kloster Irsee bei Kaufbeuren sind aus der damaligen Zeit Verwaltungsakten, Patientenakten und Photosammlungen erhalten. Irsee war keine der großen Vernichtungsanstalten, dort wurden "nur" 1400 Menschen ermordet und wild um die Anstalt herum oder in Massengräbern verscharrt. Die Schwabenakademie Irsee, die heute das ehemalige Kloster nutzt, ging relativ früh relativ offen mit den grausigen Vorkommnissen aus der Nazizeit um. Dort wurde das erste Mahnmal für die Euthanasieopfer der Nazizeit errichtet, eine eigens erstellte Broschüre weist auf die Verbrechen von damals hin. Das ehemalige Leichenschauhaus, das in den Siebzigern in dem Zustand gefunden wurde, in dem man es 1945 hinterlassen hatte, ist glücklicherweise im Kern nicht verändert worden - ein Ort, den man nicht vergisst, wenn man ihn einmal gesehen hat.
Es ist wichtig, sich die Sprache der Akten vor Augen zu führen, damit die ungeheure Kälte der Vernichtung, die in ihr zum Ausdruck kommt, nicht in der wissenschaftlich korrekten Erfassung durch die Archivare untergeht. Da heißt es zum Beispiel in den Irseer Akten über einen sozial unangepassten Jugendlichen, der hauptsächlich durch kleine Diebstähle auffiel:
10. 06. 1943: Lebhafter, verschlagener Bursche, voll von kleinen Tücken und Bosheiten, wirkt arrogant und frech, wenn er irgendwo die Oberhand zu gewinnen versucht. Neigt zu Unzufriedenheit und Auflehnung. Er bedarf entschiedener Behandlung, hält Gutmütigkeit für Schwäche.
25. 07. 1943: Leicht erregbar, macht dem Stationspfleger kleine Hilfsarbeiten, nicht beständig, Wechsel zwischen lebhaftem, unstetem Wesen und mürrischer Verstimmung, nimmt weg, was er sieht, lauert auf kleine Schwächen seiner Umgebung, schwierig zu behandeln.
09. 12. 1943: Ein seit kurzerzeit unternommener Arbeitsversuch schlug gründlich fehl. L. stahl, was er konnte, war vor allem auf Schlüssel aus, gelangte in die Apfelkammer, verteilte Äpfel an Mitkranke. Lügenhaft, diebisch, brutal. Kann bei seinen offenkundig asozialen Neigungen nicht mehr zu Hausarbeiten mitgenommen werden.
08. 07. 1944: Neuerlicher Arbeitsversuch scheiterte, L. begann zu stehlen, versteckte sich, machte Schwierigkeiten, trieb Unfug.
09. 08. 1944: Exitus, Euthanasiert!
Aus: "Die Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus", von Dr. Michael v. Cranach, Broschüre, Irsee 1990
Das Konkrete der "Euthanasie" kann nur sichtbar bleiben, wenn man weiß, wo Nachweise dazu gefunden werden können. In dieser Hinsicht ist das Inventar des Bundesarchivs ein wichtiger Schritt, auch im Kontrast zur Überschwemmung der Öffentlichkeit mit trivialer, heruntergekommener "oral history" à la Guido Knopp. Und die Relevanz für irgendwelche ganz aktuelle Hüftgelenksdebatten sowie für die Diskussion zu den hochgradig zwiespältigen Versuchen, die "Euthanasie" wieder als einen Begriff in der Medizin zu verankern, ergibt sich ganz von selbst.
Zusatz vom 25.1.2025: Namen
Das Inventar heute (Stand 25.1.2025)
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