Nach der letzten Instanz

Erschienen in Konkret 7/2016


Es ist was passiert. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat einer kleinen Gruppe von Lohnabhängigen bescheinigt, jahrzehntelang von den Verwertern ihrer Arbeitskraft über den Tisch gezogen worden zu sein. Anscheinend freut dieses Ereignis niemand so richtig. Dass die Arbeitskraftverwerter empört sind, kann man nachvollziehen, aber auch die Lohnabhängigen und vor allem ihre gewerkschaftlichen Vertreter ziehen ein Gesicht. Der Anblick ist einigermaßen komisch und bedarf der Erklärung.

Die VG Wort ist eine einfache Sache. Sie sammelt Geld ein und verteilt es weiter. Das Geld zahlen die Hersteller von Produkten, mit denen man urheberechtlich geschützte Werke – im Fall der VG Wort Texte – vervielfältigen kann. Natürlich zahlen die Hersteller in Wirklichkeit keinen Cent, sondern sie geben die sogenannte Urheberrechtsabgabe über die Preise für ihre Produkte an ihre Kunden weiter. Wer zum Beispiel je einen Kopierer, einen Computer oder einen DVD-Rohling gekauft hat, hat zu dieser Urheberrechtsabgabe beigetragen. Im Jahr kommen dabei grosso modo 100 Millionen Euro zusammen, die die VG Wort an „Wahrnehmungsberechtigte“ weiterverteilt.

Ich finde das gut. Grundsätzlich ist mir als Autor fast gleichgültig, auf welche Weise die Gesellschaft mich daran hindert, Knut Hamsuns „Hunger“ am eigenen Leib nachzuempfinden. Aber wenn die Taschengelder, die von der VG Wort kommen, einen Beitrag zur Verhinderung des Reenactments darstellen, ist das in den Maßen des Möglichen fair, weil konkret auf meine Tätigkeit bezogen: Konsumenten nutzen meine Werke, ohne sie gekauft zu haben, und bezahlen dafür einen kleinen Obolus in eine Gemeinschaftskasse.

Allerdings darf man mir vorhalten, nie ernsthaft nach einer Antwort auf die Frage gesucht zu haben, warum auch die Verleger seit Bestehen der VG-Wort an der besagten Urheberrechtsabgabe beteiligt sind – sie strichen als „Wahrnehmungsberechtigte“ Jahr für Jahr bei belletristischer Literatur 30 und bei wissenschaftlichen Werken 50 Prozent davon ein, obwohl sie per definitionem keine Urheber, sondern Verwerter sind.

Als mildernden Umstand mache ich geltend, dass ich schlecht beraten worden bin. Man könnte auch sagen, ich habe mich billig verraten lassen. Jahrzehntelang haben juristische Vertreter und Funktionäre meiner Gewerkschaft („Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di“) auch mir erzählt, das mit der VG Wort sei schon in Ordnung so. Ich kann mich zum Beispiel an einen Justitiar erinnern, der stolz auf folgende Prägung war: „Der Wahrnehmungsvertrag mit der VG Wort ist der einzige, den man als Autor unterschreiben kann, ohne ihn zu verstehen.“ Oder an ein Seminar über das damals neue Thema E-Books, bei dem die anwesenden Offiziellen eine Diskussion zum Thema Urheberabgabe so schnell abwürgten, wie das nur Geschäftsordnungsprofis können, deren Aufgabe eigentlich das Gegenteil wäre. Vielleicht bin ich wohl doch ein besserer Deutscher, als ich wahrhaben will, und lasse mir manchmal zu gerne Märchen erzählen.

Kein so guter Deutscher in diesem Sinne war Dr. Martin Vogel, Jurist und Autor. Er sah genauer hin und stellte fest: Für die Beteiligung der Verlage an der Urheberrechtsabgabe gibt es nicht nur keine logische Grundlage. Sondern auch keine rechtliche. Er klagte. Man ahnt vielleicht, wie seine Gewerkschaft darauf reagierte. Die dju („Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di“) verwehrte ihm nicht nur den Rechtsschutz. Vogel wurde auch fortwährend als Quertreiber und Spielverderber dargestellt; als kleines, störendes Kind, das die Erwachsenen bei ihren wichtigen Tätigkeiten mit seinem Geplärr störte. Während sich der Rechtsstreit hinzog, avancierte er bei VS und dju zu einem der beliebtesten Watschenmänner überhaupt.

Dumm nur, dass er sich Instanz für Instanz durchsetzte. Warum es in dieser Sache überhaupt keinen rechtlichen Spielraum gab, kann man sehr schön in der
Urteilsbegründung des BGH, bei Martin Vogel selbst und bei dem Juristen, Autoren und Blogger Tilman Winterling nachlesen, um nur einige Beispiele von vielen zu nennen.

Ich empfehle aber auch dringend, sich die Argumente der Gegenseite anzuschauen. Sie lauten:

Wir hatten da doch ein gentlemen’s agreement.
Wo kämen wir denn da hin.
Schade um das schöne Geld.
Die doitsche Kultuuur wird laidööön!

Um diesen Stuss unter die Leute zu bringen, benutzt man vorzugsweise die komplett Ahnungslosen und die bis zur Besinnungslosigkeit Überangepassten unter den Autoren selbst. Aber ach, der Schmerz über die Verluste an Geld und Kultur ist so groß, dass ihn diese Hiwibrigade nicht allein besingen kann - auch die Verleger selbst sind gefordert. Den Klassiker in dieser Hinsicht hat Jo Lendle abgeliefert, der Chef des Carl Hanser Verlags.
In einem Artikel zu beklagen, dass jetzt auf die Verlage Rückzahlungen in Höhe von mehreren Hundert Millionen Euro zukämen, und zuzugeben, dass die „jahrzehntelang geübte Praxis“ nie eine rechtliche Grundlage hatte, aber nicht einmal ein formales Wort des Bedauerns über den jahrzehntealten Skandal zu verlieren – das muss man auch erst einmal hinkriegen. (Die Bücher werden darunter leiden, Die Welt, 25.04.2016). Mit anderen Worten: Die Verleger verhalten sich wie ungerechtfertigt Privilegierte aller Zeiten, denen viel zu lange nicht widersprochen worden ist.

Was die Sache mit den gentlemen bei dem besagten agreement angeht: 80% der Verlage, mit denen ich bisher als Autor zu tun hatte, haben in der einen oder anderen Weise meine Urheberrechte missachtet. Von unabgesprochenen Textänderungen im Druck über krass verspätete / fehlerhafte / ganz ausbleibende Abrechnungen bis hin zur Weiterverbreitung meiner Bücher trotz verbrieftem Rechterückfall an mich war da alles dabei. Wer das für mein Privatpech hält, dem sei beispielsweise der Artikel
Hintergangene Autoren von Theo Winterlich aus dem Jahr 2006 empfohlen. Rein rechtlich gesehen haben diese Zustände nichts mit dem BGH-Urteil zur Urheberechtsabgabe zu tun, aber sie sind sein primärer gesellschaftlicher Kontext. Ich empfinde es als sehr seltsam, meiner Gewerkschaft erläutern zu müssen: Das aktuelle VG-Wort-Urteil stellt in seinem Kontext einen der seltenen Fälle dar, in denen der BGH der Schnittmenge zwischen Recht und Gerechtigkeit zu einem kleinen Flächengewinn verholfen hat.

Wenn sich die betreffenden Gewerkschaften nur was erläutern ließen. In Wirklichkeit lautet die Empfehlung wie immer, dass man sich keinen Illusionen hingeben soll. Mit aller Macht wird bereits daran gearbeitet, dass die Gelder, die über Jahrzehnte an den eigentlichen Urhebern kultureller Werke vorbeiflossen, nicht an sie zurückfließen. Die „Krise“, die das BGH-Urteil angeblich bei den Verlagen auszulösen geeignet ist, wird durch gentlemen’s agreements verhindert werden. Und dass die viel notwendigere Krise bei den Gewerkschaften der Autoren und Journalisten auf gleichem Weg verhindert wird, steht zu befürchten.

Marcus Hammerschmitt, 2016